Seit Mitte Juni wird in den Schweizer Medien erstmals der Einsatz des Skandallehrmittels „Sexualpädagogik der Vielfalt“ in Basel und Zürich kontrovers diskutiert. Bisher allerdings nur zögerlich. Was dabei übersehen wurde: Die Methodensammlung ist kein problematischer Einzelfall. Sie kommt aus dem Herzen der dominierenden Sexualpädagogik. Als Spitze eines Eisbergs demaskiert sie ein grundsätzlich in Schieflage geratenes Gebiet der Pädagogik. Tabulose Lustoptimierung geht nur um den Preis einer Entmenschlichung der Sexualität.

Von Dominik Lusser

Treffender kann man das Programm des strittigen Buches nicht beschreiben: Eine Zeichnung in „Sexualpädagogik der Vielfalt“ zeigt eine Brille, die anstatt auf einer Nase, auf einem Penis sitzt. Ähnlich ist die Botschaft eines über den Po gespannten BHs. Gezielt verkehrte, pervertierte Welt!

Anal-Sex mimen. Ein Bordell gestalten, in dem alle sexuellen Vorlieben und Perversionen auf ihre Rechnung kommen. Verstehen, dass die Geschlechtsidentitäten von Mann und Frau und die sexuellen Orientierungen „Homo“ und „Hetero“ nur Extreme in einem Kontinuum von Möglichkeiten darstellen (normal ist „Bi“). Ein Sex-Quiz, das Schüler nach Begriffen wie „gang-bang“, „Dildo“ und „Swinger-Club“ fragt. Das sind Schulübungen, die die meisten Schweizer sowie die meisten verantwortlichen Politiker und Lehrer zu Recht empören.

Oberflächliche Debatte

Die Verteidiger des Buches – allen voran der Zürcher Sexualpädagoge und PH-Dozent Lukas Geiser in „20 Minuten“ – vertreten in der bisherigen Diskussion den Standpunkt, dass das Methodenbuch zwar einige für die Volksschule „ungeeignete“ Übungen enthält, daneben aber auch sehr viel Wertvolles. Wenn nun dadurch der Eindruck entstünde, verklemmte Konservative hätten vermeintlich Skandalöses und Perverses aus dem Zusammenhang eines an sich hochwertigen Buches herausgerissen, wäre das falsch und fatal. Doch die Diskussion könnte durchaus in diese Richtung laufen, wenn die von Caroline Jacot-Descombes von „Sexuelle Gesundheit Schweiz“ im „Tribune de Genève“ geäusserte Unterstellung Gehör finden sollte, konservativen Gegnern ginge es darum, die Thematisierung sexueller Minderheiten grundsätzlich aus der Schule zu verbannen. Die Frage aber ist doch vielmehr die, wie, in welchem Umfang und mit welchem Ziel das geschieht.

Der kritische Leser des strittigen Werkes stösst in den wenigsten Übungen auf pädagogisch Verwertbares. Und zudem müssen die spärlichen Funde von den pädagogischen Prämissen und Zielen gelöst werden, die im Vorwort zu jedem Kapitel stehen. Als Methode wollen die Autoren von „Sexualpädagogik der Vielfalt“ nämlich explizit „Verwirrung“ und „Veruneindeutigung“ angewendet wissen. „Wo könnte der Penis sonst noch stecken?“ dient als Kontrollfrage für genügende Berücksichtigung sexueller „Vielfalt“. Ziel der Sexualpädagogik könnte zudem „im Verstören, im Aufzeigen verschiedener Identitätsmöglichkeiten und im Schaffen neuer Erlebnisräume liegen.“ Neue Erfahrungsräume bedingten dabei „neue identitäre Verortungen“, zum Beispiel: „intersexuell“, „transsexuell“, „transgender“ oder „multisexuell“. In verschiedenen Übungen wird Teenagern die Vielfalt von sexuellen Optionen nahegelegt. Die auch von Jacot-Descombes vorgebrachte pädagogische Schutzbehauptung, es würde lediglich das aufgegriffen, was Jugendliche von sich aus einbrächten, geht hier ins Leere. Zur oben genannten Puff-Übung heisst es: „Jugendliche brauchen bei dieser Übung die Ermunterung, Sexualität sehr vielseitig zu denken.“ Ein Tipp für die Pädagogen, der im Lehrmittel mehrmals wiederkehrt.

Ein Vergleich der beiden Auflagen von 2008 und 2012 zeigt ferner eindrücklich, in welche Richtung sich die sexualpädagogische „Wissenschaft“ entwickelt. Während die mittlerweile legendäre Puff-Übung neu dazu kam, wurde auch in vielen anderen Übungen die Schraube der Perversion eine Umdrehung mehr angezogen. In der Übung „Superwoman“, wo Sex während der Menstruation thematisiert wird, kam neu die Variante Gruppensex dazu. Die Übung „Das erste Mal… Ja welches denn?“, die der „Entmystifizierung“ des ersten Mals Geschlechtsverkehrs dient, wurde um die Option Anal-Sex erweitert. Handkehrum wurde in einem Quiz zum Thema Pornografie die einzig pädagogisch sinnvolle Frage: „Warum dürfen unter 18-Jährige keine Pornos schauen?“, kurzerhand gestrichen. Konsequent, denn die pornofreundliche Haltung des Buches ist unübersehbar. Das gilt auch für Lukas Geiser, den vehementen Verfechter des strittigen Buches im Kanton Zürich. Ihm zufolge „gibt es spezifischere Bücher und Internetseiten, die helfen, das Thema Pornografie verantwortungs- und respektvoll zu besprechen und den Jugendlichen klar zu machen, dass Pornografie nicht das reale Sexleben darstellt und wo die rechtlichen Rahmenbedingungen liegen.“ Mit dieser Unterscheidung zwischen Fiktion und Realität ist Geiser mit seiner Porno-Kritik dann aber auch schon fast zu Ende. Wie sein Themenfilm „Körper und Sex“ (SRF-mySchool) offenbart, ist die Frage des Pornokonsums seiner Meinung nach eine der persönlichen Vorliebe. Dabei wird einfach übergangen, dass die bloss wissensmässige Unterscheidung von Porno und Realität keineswegs vor schädlichen Auswirkungen schützt. Laut der führenden Mediensuchtexpertin Tabea Freitag ist die Macht der Bilder und Illusionen einer rein kognitiven Einsicht überlegen. „Der zentralen Bedeutung der Sexualität als intimste Form der Kommunikation steht die Erfahrung vieler Paare gegenüber, dass sich das pornografische Kopfkino wie eine Schablone zwischen die Partner schiebt“, weiss Freitag in ihrem preisgekrönten Werk „Fit for love? – Eine bindungsorientierte Sexualpädagogik“ aus Forschung und therapeutischer Praxis zu berichten.

Blindes Vertrauen

Die Volksschulämter von Basel-Stadt und Zürich empfehlen das Lehrmittel zum Einsatz in der Sekundarstufe. Kritische Kenner der Szene gehen davon aus, dass die Verantwortlichen der Volksschulämter das Buch selber kaum kennen. Das zeigt auch das Beispiel der nationalen Bildungsstiftung „éducation21“, die im April 2016 nach nur einer Reklamation das Buch nach nochmaliger Prüfung als ungeeignet aus ihrem Bestellkatalog gestrichen hat. Man vertraut also bei manchen Behörden blind den ca. 100 ausgebildeten Schweizer Sexualpädagogen. Und vielleicht gibt es im Moment – ausser dem genannten Buch von Freitag – auch relativ wenige gute Alternativen zu „Sexualpädagogik der Vielfalt“. Man muss aber auch klar sehen, in welchem Dilemma die Volksschulverantwortlichen stecken. Hier wirklich etwas zu ändern würde bedeuten, die gesamte Sexualpädagogen-Zunft auszuwechseln und den Bereich schweizweit in andere Hände zu legen.

Es ist in den letzten Jahren wenigen, relativ kleinen Gruppierungen und Organisationen gelungen, eine Vormachtstellung in der Sexualpädagogik im ganzen deutschsprachigen Raum einzunehmen. Jakob Pastötter, Präsident der Deutschen Gesellschaft für sozialwissenschaftliche Sexualforschung, redet von einem Meinungskartell um die deutsche „Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung“ (BZgA), Deutschlands führender Fachverband für Sexualität „Pro Familia“ und das Dortmunder „Institut für Sexualpädagogik“. In diesen Institutionen diktiert der Kieler Sexualpädagogik-Professor Uwe Sielert die Inhalte nach Belieben. Sielert ist der Mann der Stunde der deutschen Sexualpädagogik. Als Nachfolger des pädosexuellen Aktivisten Helmut Kentler (+2008, Quelle www.welt.de) hat er dessen emanzipatorische Sexualpädagogik durch die Integration der radikalen Gender-Theorie zur Sexualpädagogik der Vielfalt weiterentwickelt. Diese ist also weit mehr als der Titel eines Skandalbuches. Sielert, auf den auch das Luzerner „Grundlagenpapier Sexualpädagogik und Schule“ von 2008 entscheidenden Bezug nimmt, konstatierte schon 2001 in einem Aufsatz: „Sexualpädagogik hat immer noch Probleme damit, Lust, Zärtlichkeit und Erotik als Energiequelle für Lebensmut und Wohlbefinden, auch unabhängig von Ehe und Liebe in allen Altersphasen freundlich gegenüberzustehen.“ So meinten wir immer noch, es sei wertvoller, mit „Kopulationsmystik“, also einer die Lust domestizierenden Liebe, gegen lustsuchende „Erregungssammler“ vorgehen zu müssen. Gender Mainstreaming meint bezogen auf die Sexualpädagogik „nicht nur die Infragestellung der bipolaren Geschlechterordnung, sondern ebenso die Bipolarität von Homo- und Heterosexualität sowie das Eintreten für vielfältige Elternschaft und eine Pluralisierung der Lebensweisen und Familienformen.“

Elisabeth Tuider und Stefan Timmermanns, die Autoren von „Sexualpädagogik der Vielfalt“ aber sind nicht irgendwelche Exoten, sondern die designierten Nachfolger von Kentler und Sielert. Ihr Buch ist das radikalisierte Nachfolgewerk von Sielerts „Sexualpädagogische Materialien für die Jugendarbeit in Freizeit und Schule“ (1993), das seit Jahren in allen Schweizer PH-Bibliotheken steht. Tuider und Timmermanns schockierende Praxisvorschläge offenbaren somit nur eine sehr weitreichende Schieflage der gesamten Sexualpädagogik im deutschsprachigen Raum. Schweizer Hauptimporteur des Sielertschen Gedankenguts ist die Stiftung „Sexuelle Gesundheit Schweiz“ (SGS), als Schwesterorganisation von „Pro Familia“ ebenfalls Mitglied der International Planned Parenthood Federation. Daniel Kunz, der Verfasser des Luzerner Grundlagenpapiers und Vizepräsident von SGS, hat dem Tuider/Timmermanns-Buch 2009 in einer Rezension Höchstnoten ausgestellt. Seither wird es von der Organisation über die Informationsplattform amorix.ch empfohlen. Was Sielert für Deutschland, sind Kunz und SGS für die Schweiz. Die Machtposition der Organisation in der Sexualpädagogik ist fast grenzenlos. So ist sie die Dachorganisation der Fachverbände und Fachstellen für sexuelle Bindung und Beratung. Sie ist Präventionspartner des BAG und zu fast 100 Prozent von diesem finanziert. SGS besitzt in Zusammenarbeit mit den Hochschulen Luzern und Genf ein Monopol in der Ausbildung von Sexualpädagogen. Damit ist auch ein direkter oder indirekter Einfluss auf die Lehrerausbildung an den Pädagogischen Hochschulen gegeben; z.B. durch Lukas Geiser, der in Zürich und Luzern angehende Sekundarlehrer unterrichtet. Womit sich der Kreis wieder schliesst.

Ideologische Ignoranten

Auch wenn die gesunde Scham der meisten Volksschullehrer zu gross ist, das in solchen PH-Lehrgängen Gehörte und an Material Ausgeteilte im Schulzimmer anzuwenden, ist der Einfluss der genannten Netzwerke auf die Klassen dennoch erheblich. Botschaften wie „Anal gehört zum Standard“, „Sex ohne Liebe geht ebenso wie Liebe ohne Sex“ oder „Pornografie ist eine Inspirationsquelle für den eigenen Sex“ – oder zumindest nicht prinzipiell problematisch – fliessen über Klassenbesuche externer „Experten“, Lehrmittel wie der Comic „Hotnights“ (2012) oder Internet-Infoplattformen wie feel-ok.ch oder lilli.ch in die Köpfe und Herzen der Schüler. Auf der Präventionsplattform feel-ok.ch, die von 15 Kantonen finanziell unterstützt wird, werden u.a. die verschiedenen Kundengruppen von Prostituierten vorgestellt: Eine davon sind Menschen mit einer Vorliebe für Sexualpraktiken wie Züchtigungen, Schläge oder Schmerzen. Dies aber sei, wie der Jugendliche erfährt, nicht vorschnell als perverse oder abartige Sexualität abzuwerten. Solche Menschen seien grösstenteils „‚normale Bürger‘ mit etwas anderen sexuellen Bedürfnissen.“ Verantwortlich für den Inhalt sind nicht etwa Tuider und Timmermanns, sondern die Stiftung „Berner Gesundheit“.

Ein Blick auf die Internet-Rubrik „Sex von A bis Z“ der Zürcher Fachstelle „Lust und Frust“ offenbart das ganze Zerrbild von Sexualität, das derzeit die Sexualpädagogik dominiert. Nach dem Begriff „Treue“ sucht man vergeblich. Was „Liebe“ meint, könne man nicht so genau sagen: „Lass es einfach auf dich zukommen.“ Dabei weiss die Psychologie, dass Liebe weniger ein Gefühl, als vielmehr eine tief im Menschen verankerte Motivation und Fähigkeit ist, die – so Erich Fromm – ein Leben lang eingeübt werden muss. Liebe zielt auf die Bejahung und Wertschätzung des anderen als Person. „Beziehung“ meint gemäss „Lust und Frust“ „alle Formen von Verbindungen“, also möglicherweise auch eine blosse Zweckgemeinschaft für den Orgasmus, häufig aber eine „Zweierbeziehung zwischen zwei Menschen“. Soll damit gar die Tür zur Zoophilie offen gehalten werden? Krud ist auch die Definition von „Sex“ bei „Achtung Liebe“, einem Team von Studenten, die z.B. in Basler Klassen über „Liebe“ sprechen: „Unter Sex versteht man sexuelle Handlungen zwischen zwei oder mehreren Sexualpartnern.“ Ob diese Studenten wohl noch nie etwas vom Bindungshormon Oxytocin gehört haben, das insbesondere während des Orgasmus ausgeschüttet wird und starke andauernde, nicht auf andere Personen übertragbare Gefühle der Verbundenheit bewirkt? Auch die evolutionsbedingte Universalität der Eifersucht gegenüber potentiellen Konkurrenten (das sog. „human mate guarding“) scheint ihnen unbekannt zu sein. Doch zeigen allein schon diese biologischen Fakten, wie verletzlich der Bereich menschlicher Sexualität ist. Bedenkt man ferner, dass das Glückshormon Endorphin für Entspannung beim Sexualakt sorgt, und vor allem Frauen hilft, zum Höhepunkt zu kommen, ahnt man schon, dass Vertrauensbruch in der Beziehung die Genussfähigkeit von Frauen stark in Mitleidenschaft ziehen kann. Anal- und Oralverkehr wird auf all diesen einschlägigen Internet-Seiten übrigens als gleichwertige Alternative zum Geschlechtsverkehr beworben, obwohl die empirische Forschung zeigt, dass die meisten Jugendlichen, die solche Praktiken im Internet gesehen habe, diese eklig finden.

Der Druck, das Gesehene gegen den eigenen Willen dann doch mitzumachen, wenn z.B. der Freund das gerne möchte oder gar droht („ich hol mir eine andere“), steigt nochmals an, wenn professionelle Sexualpädagogen diese vermeintliche Normalität bestätigen. Der Preis, den eine Sexualpädagogik fordert, die vermeintlich selbstbestimmte Lustoptimierung mit sexueller Gesundheit verwechselt, ist hoch. Wer Jugendlichen, deren sexuelle Lust eben erwacht ist, einredet, die Instant-Befriedigung ihres Sexualtriebes sowie Pornokonsum liessen sich bestens mit den langfristigen Lebenszielen von Familie und zuverlässiger Partnerschaft vereinbaren, betrügt diese schamlos. Selbstbestimmung und Lust sind zweifelsohne wichtige Aspekte menschlicher Sexualität. Sie sind aber keine zureichende Bedingung für ein glückliches Sexualleben im Erwachsenenalter. Denn erstens traut die emanzipatorische Schule seit Kentler Jugendlichen und sogar Kindern eine Mündigkeit zu, die sie noch nicht haben. „Man gibt sich hier Illusionen hin“, analysierte die französische Sexologin Therese Hargot kürzlich gegenüber „Le Temps“. Selbstbestimmung und Verhandlungsmoral setzten eine gewisse Reife voraus, die gerade unsichere Jugendliche häufig überfordere. „Oder bedeutet sexuelle Freiheit für ein 14-jähriges Mädchen des 21. Jahrhundert tatsächlich das Recht, Jungs oral zu befriedigen?“

Vom Nutzen der Scham

Zweitens setzt Selbstbestimmung ein fundiertes, umfassendes Wissen über menschliche Sexualität voraus. Dieses aber kommt in den genannten Kreisen und ihren Materialien schon deswegen zu kurz, weil sich die dominierende Sexualpädagogik nicht nur von früheren gesellschaftlichen Normierungen emanzipiert hat, sondern auch von den hier relevanten Humanwissenschaften: der Entwicklungspsychologie und der Bindungsforschung ebenso wie von der evolutionsbiologischen Geschlechterforschung und der Neurologie. Sie folgt in ihrer rein sozialwissenschaftlichen Theoriebildung der radikalen Gender-Theorie, die in der faktisch dominierenden Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit Machtverhältnisse ortet, die es zu dekonstruieren gilt. Weil dies aber ganz offensichtlich nicht stimmt, stellt die Sexualpädagogik der Vielfalt einen als Antidiskriminierung getarnten Übergriff auf die menschliche Identität und Intimität dar.

Unter dem Vorwand, zu befreien, unterwirft diese Art Sexualpädagogik die jungen Generationen neuen, sehr problematischen Normierungen. Was als Norm gilt, bestimmen heute kleine, sexual-politisch motivierte Pressure-Groups unterstützt durch die überall verfügbare Internetpornografie. Der Preis der sexuellen „Vielfalt“ aber ist der Verlust eines kohärenten, stimmigen Bildes menschlicher Sexualität, mit dem Jugendlichen vermittelt werden kann, wer sie sind. Die Lustoptimierung als gemeinsamer Nenner aller beliebigen Lebens- und „Liebes“-Weisen verdeckt letztlich die Sicht auf die Person des anderen. Während die Psychologie erstmals seit 1968 gerade das Positive der Scham wieder entdeckt, arbeiten die Sexualpädagogen immer noch fleissig und zielstrebig an der kollektiven Enthemmung. „Immer mehr Publikationen zeigen, was wir verlieren, wenn alles erlaubt ist“, meinte kürzlich der Wiener Psychiater Raphael Bonelli am Rande einer Fachtagung zu diesem Thema: „Das Schamgefühl schützt die Intimität, sowie in Folge auch die Innerlichkeit und Persönlichkeitsreifung eines Menschen. Fehlt es, wird er fremdbestimmt, und Übergriffe sind vorprogrammiert.“ Die menschlichen Grundfunktionen der Scham und der Schuld seien eng verbunden. Während die Schuld das „Du“ in der Beziehung schütze, sorge die Scham dafür, dass das „Ich“ nicht verletzt werde. Ohne Scham gibt es somit keine verlässlichen Bindungen, die einen sicheren Rahmen für menschenwürdige Sexualität bieten können.

Das Skandal-Buch „Sexualpädagogik der Vielfalt“ ist also kein Ausreisser, sondern Spitze des Eisbergs einer Sexualpädagogik, die die Rolle der Person in der Sexualität gezielt ausblendet. Der Kopf als unser wichtigstes Sexualorgan aber lässt sich, so Tabea Freitag, „nicht darüber hinweg täuschen, dass Sexualität auf ein Gegenüber ausgerichtet und angewiesen ist.“ Darum aber sind sexuelle Grenzverletzungen, die oft sehr subtil von Statten gehen, auch nicht wegzustecken wie ein Zusammenprall beim Fussballspiel. Im Gegenteil können sie ein Leben zeichnen oder gar ruinieren. Die dominierende Sexualpädagogik hat das Feigenblatt von der Scham zum Gesicht verschoben. Im Interesse einer pluralistischen Gesellschaft und eines offenen Gesprächs über ganzheitliche Sexualpädagogik ist es darum dringend notwendig, die in diesem Bereich herrschende inhaltliche und strukturelle Engführung aufzubrechen. Je länger wir damit warten, desto desaströser die individuellen und kollektiven Konsequenzen.