Selbsttötungen mithilfe Dritter sind in der Schweiz in zehn Jahren um mehr als 350 Prozent gestiegen. Betroffen sind vor allem ältere Menschen, besonders Frauen. In Zürich dürfen private Pflege- und Altenheime nun doch Sterbehilfe-Vereinen den Zutritt verbieten.
Die Nachrichten sind zwiespältig: Zum einen ist in der Schweiz die Zahl der Suizide im Jahr 2020 seit 1964 zum ersten Mal auf unter 1000 Fälle (972 Suizide) gesunken. Gleichzeitig haben 1251 Schweizer im selben Jahr Suizid mithilfe Dritter begangen – und das bedeutet einen neuen Höchststand. Beides geht aus den aktuellen Daten des Schweizer Bundesamts für Statistik hervor (3.10.2022). „Hier wird erneut deutlich wie sogenannte ‘Sterbehilfe’-Organisationen mit ihrem Angebot de facto eine effektive Suizidprävention unterlaufen“, sagt IMABE-Direktorin Susanne Kummer.
Die Schweiz hat eine Suizidrate von 25,6, wenn man die assistierten Suizide miteinschließt
Insgesamt haben sich im Jahr 2020 2223 in der Schweiz wohnhafte Personen das Leben frühzeitig genommen. Pro 100’000 Einwohner kommt die Schweiz damit auf eine Suizidrate von 25,6. (Zum Vergleich: Österreich hatte 2021 eine Suizidrate von 12,5). In der Öffentlichkeit finden diese erschreckenden Zahlen jedoch kaum Aufmerksamkeit. „Während der schrittweise Rückgang sogenannter harter Suizide als Erfolg gemeldet wird, wird gleichzeitig ausgeblendet, dass in nur zehn Jahren die Zahl der Selbsttötungen mithilfe Dritter in der Schweiz um mehr als 350 Prozent gestiegen ist“, kritisiert die Ethikerin. Offiziell werden assistierte Suizide in der Schweiz nicht in die Suizidrate miteinberechnet, was laut Kummer zu einer „Verzerrung der Fakten“ führt. „Ein Suizid bleibt ein Suizid – auch wenn Dritte nach Absprache die Tötungsmittel zur Verfügung stellen. Prävention und nicht Angebote müssen oberstes Gebot bleiben.“
Private Zürcher Alters- und Pflegeheime dürfen Sterbehilfe-Vereinen nun doch Zutritt verbieten
Die Schweizer Zahlen erhärten die internationalen Daten: Von sogenannten „harten“ Suiziden sind vor allem Männern unter 65 Jahre betroffen. Die gefährdetste Gruppe für Selbsttötungen mithilfe Dritter sind hingegen ältere Frauen und Senioren. Um an diese neue Zielgruppe besser heranzukommen, machen Sterbehilfe-Vereine auf die Politik Druck. Sie wollen direkten Zugang zu Altersheimen, um dort für Suizidangebote zu werben und ältere Menschen damit zu „versorgen“. Zumindest für Zürcher Alters- und Pflegeheime in privater Trägerschaft wurde dies nun abgewehrt. Während Alterseinrichtungen mit einem Leistungsauftrag einer Gemeinde nun gezwungen sind, Sterbehilfe-Vereinen wie Dignitas und Exit Zutritt zu gewähren (Bioethik aktuell, 24.5.2022), hat der Zürcher Kantonsrat nun entschieden, dass private Träger Suizidhilfe in ihren Räumlichkeiten weiterhin verbieten können (NZZ, online 31.10.2022).
Exit wirbt für potenzielle Suizid-Kandidaten in öffentlichen Verkehrsmitteln
Empört hat der aggressiv für neue Klientel werbende Verein Exit auf die Wende im Zürcher Kantonsparlament reagiert. Exit macht derzeit eine Pro-Suizid-Werbekampagne in öffentlichen Transportmittel. Die Plakate hängen jeweils zwei Wochen in den Städten Basel, Bern und Zürich in Bussen und Strassenbahnen, erste Beschwerden von Fahrgästen sind schon eingegangen. Der Sprecher des Verkehrsunternehmens Bernmobil sieht hingegen kein Problem: Die Werbeflächen seien verpachtet, womit das Unternehmen nicht selbst für die Anzeigen zuständig sei. Man behalte sich jedoch vor „beispielsweise Werbung für Alkohol, diskriminierende Werbung oder Werbung, die gegen andere rechtliche Vorschriften oder die guten Sitten verstösst, abzulehnen“, so Bernmobil-Sprecher Rolf Meyer (20 Minuten, online 6.11.2022). Werbung für Suizid-Beihilfe zählt offenbar nicht dazu.
Verlust von Solidarität gegenüber älteren Menschen muss verhindert werden
Vor einem Messen mit zweierlei Mass bei Suiziden hat Ethikerin Kummer kürzlich in Interview mit der Kronen Zeitung (4.10.2022) gewarnt. „Es tut etwas mit der Gesellschaft, wenn der Suizid als Erlösung im Raum steht.“ Internationale Zahlen zeigen, dass assistierter Suizid und Tötung auf Verlangen zu 85 Prozent von Senioren ab 65 und hochaltrigen Personen in Anspruch genommen werden. Ein schleichender Kulturwandel schaffe ein Klima, „in dem ältere Menschen meinen, es sei besser, wenn es sie nicht mehr gibt“, warnt die Expertin. Diesen Verlust von Solidarität insbesondere gegenüber älteren Menschen gelte es zu verhindern.
In 90 Prozent der Suizide und Todeswünsche liegen psychische Erkrankungen zugrunde
Dass in der Debatte um die sog. Sterbehilfe die Prävention von Suiziden vernachlässigt werde, kritisiert auch der Präsident der Bundesdeutschen Ärztekammer (BÄK), Klaus Reinhardt. Zu einseitig sei die derzeitige politische Debatte in Deutschland auf die Verwirklichung eines Suizidwunsches ausgerichtet, so Reinhardt anlässlich der Veranstaltung „Bundesärztekammer im Dialog: Suizidprävention vor Suizidhilfe“, berichtet das Deutsche Ärzteblatt (Ausgabe 42/2022).
Die Hauptursachen von Suizidalität würden zu wenig in den Blick genommen, mahnt die BÄK. Etwa 90 Prozent der Suizide und Todeswünsche lägen psychische Erkrankungen zugrunde – insbesondere Depressionen. „Untersuchungen zeigen, dass Depressionen und Vereinsamung einen starken Einfluss auf einen Suizidwunsch hätten. Um diese Menschen müssen man sich insbesondere mit regionalen Angeboten kümmern“, betont Reinhardt. Anlässlich der bevorstehende gesetzlichen Regelung zum assistierten Suizid in Deutschland dürfe keinesfalls Suizidprävention hinter Suizidhilfe zurückstehen.
Quelle: Institut für Medizinische Anthropologie und Bioethik (IMABE)