Der ehemalige Basler Gender-Student Vojin Saša Vukadinović rügte unlängst in der feministischen Zeitschrift „Emma“ die Gender Studies als „Sargnägel des Feminismus“. Doch die radikale Gesellschaftskritik der Postmoderne, die das Gender-Konzept hervorgebracht hat, trägt nicht nur die Frauenbewegung, sondern unsere gesamte Kultur zu Grabe.
Von Dominik Lusser
Die weltweit stattfindende Entwürdigung und Entrechtung von Frauen sei in der Geschlechterforschung kaum mehr Thema, konstatiert Vukadinović. Die Ursache für diese Entwicklung sieht der ehemalige Gender-Student im Gender-Begriff Judith Butlers: Dem zufolge sind nicht nur die gesellschaftlichen Geschlechterrollen, sondern auch die biologischen Geschlechter in ihrer Bedeutung vollständig sozial konstruiert. Die Annahme, wonach hinter dem kulturell vermittelten Geschlecht keine Natur stehe, werde durch die Queer Theory ferner auf das sexuelle Begehren ausgeweitet. Hinzu kämen dann noch die Postcolonial Studies, die das Nachleben des Kolonialismus untersuchten und Perspektiven wie die Intersektionalität (eine Art Mehrfachdiskriminierung) in den Mittelpunkt der Gender Studies rückten.
Daraus resultiert dann laut Vukadinović anstelle der Frauenemanzipation ein ganz neues Betätigungsfeld der Geschlechterforschung: „Mit dem Rotstift werden akademische Texte, gesellschaftliche Phänomene oder politische Probleme darauf abgeklopft, ob sie ‚sexistisch‘, ‚rassistisch“, ‚homophob‘ oder ‚transphob‘ sind. Von dort ist der Weg zu Sprechverboten nicht weit.“ Das Fach bilde so nicht mehr „zur Problemlösung aus, sondern vorrangig zum Beanstanden des Sprechens Dritter über etwas.“
Genderistische Blüten
Vukadinović bringt auch erschreckende Beispiele: Daniela Hrzán, Gender-Expertin für das Reden über Genitalverstümmelung, habe gemahnt, statt von „Female Genital Mutilation“ von „Female Genital Cutting“ zu sprechen: Hrzán zufolge ist nicht etwa der barbarische Akt menschenverachtend, sondern der Begriff „Verstümmelung“, da dieser nahelegt, die Betroffenen würden unter dem gewaltsam Erlebten leiden. Erfüllte Sexualität werde nämlich, wie Hrzán zusammenfassend festhält, nicht zwingend mit Orgasmusfähigkeit in Zusammenhang gebracht. Vukadinović sieht in solchen Aussagen zurecht eine doppelte Niedertracht am Werk: „gegenüber den Opfern von Rasierklingen und Messern und dem Recht auf körperliche Unversehrtheit.“
Doch das ist offenbar kein Einzelfall. Ähnlich moniere auch Gender-Expertin Ann-Kathrin Messmer, dass Schriften zur Genitalverstümmelung „die afrikanische Frau“ als „sich nach westlichen Standards zu emanzipierende“ adressieren würden. Vukadinović kritisiert: „Westliche Standards wie Menschenrechte, Frauenemanzipation und Religionsfreiheit, die Messmer ganz selbstverständlich für sich selbst in Anspruch nimmt – darauf sollen Tausende Mädchen, die tagtäglich dem inhumanen Ritual unterworfen werden, keinen Anspruch haben: vielmehr sollen sie vor ‚Verwestlichung‘ geschützt werden.“
Judith Butler selbst schwärmt Vukadinovíc zufolge für die Vorzüge der Burka: Das mobile Stoffgefängnis sei laut der Gender-Vordenkerin eine „Übung in Bescheidenheit und Stolz“, das nicht etwa Frauen zum Verschwinden bringe, sondern einen „Schutz vor Scham“ symbolisiere und deshalb zu konservieren sei. Verwestlichung sei, so Butler, keinesfalls immer eine gute Sache.
Auch die deutschen Gender Studies haben sich auf das antiimperialistische Weltbild Butlers eingeschworen, dem alles Westliche a priori als verdächtig, alles Nicht-Westliche hingegen als bewundernswert gilt. „Ich will, dass sich meine Studierenden einmal richtig schlecht fühlen“, zitiert Vukadinović eine Dozentin der Berliner Humboldt-Universität, die bei einem Postkolonialismus-Symposium mit diesem Satz Sinn und Zweck ihrer Lehrveranstaltungen erklärte: „gemeint war, dass in Deutschland geborene und aufgewachsene Individuen Scham dafür empfinden sollten, westlicher Herkunft zu sein.“
Beispiele, wie sie Vukadinović dokumentiert, zeigen, dass die Gender Studies für eine echte Emanzipation der Frau tatsächlich nichts zu leisten vermögen. Denn was können Frauen schon von einer Disziplin erwarten, welche die weibliche Identität selbst verleugnet und so der Frauenbewegung das Subjekt unter den Füsse weg dekonstruiert hat?
Selbstkritik oder Selbstverleugnung?
Der typisch postmoderne, völlig konturlose Gender-Begriff ist das Instrument einer kontinuierlichen Dekonstruktion von Geschlecht und Sexualität, die vor nichts Halt macht. Dass die feministische Interpretation von Gender (Gleichstellung bzw. soziale Austauschbarkeit von Mann und Frau) nun immer mehr durch die LGBTQI-Interpretation des Begriffs (Pluralisierung der Gender-Identitäten und Begehrensweisen) verdrängt und radikalisiert wird, ist – wenn manche Feministinnen das auch erst jetzt zu realisieren beginnen – kein Widerspruch. Vielmehr lässt sich die Vielbödigkeit des Gender-Begriffs bis zu John Money zurückverfolgen, der in den 1950er-Jahren dem ursprünglich grammatikalischen Begriff erstmals eine sozialpsychologische Bedeutung gab.
Butlers Gender-Ideologie ist aber letztlich nur als Teil einer viel umfassenderen Agenda richtig zu verstehen und in ihrer Tragweite einzuschätzen. Dies zeigen die Forschungsarbeiten der belgischen Kulturphilosophin Marguerite A. Peeters. Die neomarxistisch inspirierte radikale Kulturkritik der Postmoderne (bzw. des Poststrukturalismus) hat sich die Dekonstruktion der westlichen Zivilisation und kulturellen Identität auf die Fahnen geschrieben. Im Gefolge von Jacques Derridas (sicher teilweise berechtigten) Kritik am Binarismus der europäischen Zivilisation sollen nicht nur die Gegensätze Frau-Mann und heterosexuell-homosexuell, sondern auch Gegensatzpaare wie westlich-nicht westlich, eigen-fremd oder kolonial-eingeboren systematisch aufgelöst werden. Das aber bedeutet auch, wie mir scheint, dass die Wertschätzung der Postmoderne für das Fremde (bzw. die Frau) nur dialektischer, d.h. vorübergehender Art ist. Das Fremde (die Frau) interessiert nur, insofern und solange es das Eigene (den Mann) radikal in Frage stellt.
Der ins Absurde gesteigerte Kultur- und Werterelativismus, dem die Postmoderne huldigt, muss notwendigerweise den Blick trüben für das menschlich Wichtige, Wahre und Gute. Wenn Wissen, wie Michel Foucault meint, immer nur machthaltiger Zugriff auf die Welt sein soll bzw. kann, dann wird letztlich nicht nur Wissenschaft unmöglich. Dann fehlt auch dem Bemühen, die Welt zu einem besseren Ort (für Frauen) zu machen, jede Richtung. Kritik wird dann zum Selbstzweck, zum ziellosen Drehen um sich selbst, zur interessegeleiteten Willkür oder auch zum offen zur Schau gestellten (Selbs-)Hass. Die postmodernen Gender Studies sind so gesehen das vorläufige geistige Endprodukt einer dekadenten westlichen Kultur, die nicht nur jede positive Perspektive auf die Zukunft und jede Vitalität verloren hat, sondern an sich selbst zu verzweifeln droht.
Mit Bescheidenheit hat das allerdings wenig zu tun. Den Postcolonial Studies zum Trotz ist die kolonialistische Arroganz der Gender-Lobby kaum zu überbieten. Unterstützt durch das UN-Establishment und die EU verbreiten westliche Länder und NGOs ihre LGBT-Agenda mit missionarischem Eifer und unter Zuhilfenahme wirtschaftlichen Drucks auf der ganzen Welt. Selbstverständlich unter dem Deckmantel von Menschenrechten. Der radikale Kulturrelativismus der Postmoderne zeigt so seine imperialistische Fratze.
Universelles Erbe
Europa mit seinem reichen geistigen Erbe hätte zweifellos einiges zu einer gerechteren Welt beizutragen. Dazu müsste es sich aber wieder auf seine Fundamente zurückbesinnen, zu denen neben der jüdisch-christliche Offenbarung auch die griechische Philosophie und das römische Naturrecht zählen. Noch die 1948 proklamierte Allgemeine Menschenrechtserklärung der UNO basiert auf der Vorstellung einer naturgegebenen Würde jedes Menschen und von universell gültigen, weil universell erkennbaren menschlichen Werten.
Doch Europas postmoderne Verzweiflung an der Vernunft, die durch die Exzesse der Moderne (Kolonialismus, Stalinismus, Nationalsozialismus, usw.) allein nicht zu erklären sind, führt auch zur Leugnung oder Umdeutung dieser universell menschlichen Werte, die für jede Gemeinschaft überlebensnotwendig sind: Im Gender-Begriff wird die Komplementarität von Mann und Frau aufgehoben. Die Ehe als fruchtbare Lebensgemeinschaft von Mann und Frau wird als „Ehe für alle“ ad absurdum geführt. Die Familie schliesslich ist für den postmodern verirrten Intellektuellen, der sich von seinem eigenen menschlichen Herkunftsnarrativ entfremdet hat, nicht mehr primär die Gemeinschaft von Vater, Mutter und ihren leiblichen Kindern, sondern jeder Ort, wo irgendwelche Menschen füreinander da sind.
Was die universelle Gültigkeit unveräusserlicher Menschenrechte anbelangt, muss sich aber auch die Zeitschrift „Emma“ einige Kritik gefallen lassen. Wer ungeborenen Kindern das Lebensrecht abspricht und das Recht auf Abtreibung zur Bedingung der Emanzipation der Frau erklärt, sollte tatsächlich einmal selbstkritisch in sich gehen. Denn er steht – um es mit einem bei Adorno geborgten Begriff zu sagen – im Zentrum des „Verblendungszusammenhangs“, der das kollektive Bewusstsein der westlichen Gesellschaften bereits zu weiten Teilen bestimmt. Die Gender Studies stellen nur besonders drastisch vor Augen, wohin diese Wirklichkeitsblindheit unsere Gesellschaft noch führen könnte. Ins Grab!