Die tiefe Geburtenrate in Westeuropa wird oft mit der Formel erklärt: Je mehr Bildung und Wohlstand, desto weniger Babys. Doch so einfach ist es nicht.
Von Giuseppe Gracia
Thilo Sarrazin behauptet in seinem neuen Buch „Feindliche Übernahme“, dass Muslime in wenigen Generationen die Mehrheit in Westeuropa bilden und unsere Freiheitskultur auslöschen würden: Weil überall dort, wo Muslime die Mehrheit stellen, Demokratie, Gleichstellung der Geschlechter und Meinungsfreiheit chancenlos sind.
Aber Sarrazin interessiert sich nicht für die Frage, warum die Westeuropäer eigentlich so wenig Kinder machen. Gemäss Alan Cooperman, Pew-Direktor für Religionsforschung, bekommt eine Frau in muslimischen Gesellschaften durchschnittlich 3,1 Kinder. In Italien sind es 1,2, in Deutschland oder in der Schweiz 1,4.
Was ist der Grund? Die gängige Erklärung: Je mehr Bildung und Wohlstand, desto weniger Babys. Aber so einfach ist es nicht. Auch im Westen gibt es wohlhabende, akademisch gebildete Väter und Mütter mit bis zu sechs Kindern.
Wenig Religion, wenig Kinder
Ihr Geheimnis? Es sind fromme, traditionsverbundene Juden oder Christen. Sieht man heute auf einer Strasse in Zürich, Berlin oder New York eine Familie mit fünf oder sechs Kindern, dann sind die Eltern kaum Atheisten, rot-grüne Umweltbewahrer oder freisinnige Welthumanisten, sondern Religiöse. Man könnte also sagen: je weniger Religion, desto weniger Kinder, unabhängig von Bildung und Wohlstand.
Menschen setzen nur dann gern Kinder in die Welt, wenn sie den Fortbestand der eigenen Kultur für wichtig halten und bereit sind, Opfer dafür zu bringen. In unserer Gesellschaft gibt es viele liberale, aufgeklärte Menschenfreunde und Apostel des Fortschritts, aber wenn es ans Kindermachen geht, dann ist es schnell vorbei mit dem Idealismus. Vielleicht auch wegen der weitverbreiten Meinung, der Westen sei eine rassistische, imperialistische und sexistische Kultur. Das erklärt den häufig geäusserten Satz: „In diese Welt setze ich doch keine Kinder!“
Spirituelle Leere
Unser Problem ist also nicht einfach Egoismus oder Angst vor Verantwortung, sondern kulturelle Selbstverachtung und das Fehlen einer Sinnperspektive über die materielle Welt hinaus. Eine spirituelle Leere, in der das Leben nur noch wie eine erschöpfende Pendelbewegung zwischen Leistung und Konsum erscheint.
Oder mit den Worten des französischen Schriftstellers Michel Houellebecq: „Realitätssinn, Lustprinzip, Konkurrenzfähigkeit, permanente Herausforderung und soziale Stellung (…) all dies ist nicht gerade geeignet, um in laute Hallelujas auszubrechen.“
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Giuseppe Gracia (51) ist Schriftsteller und Medienbeauftragter des Bistums Chur. Er ist verheiratet und Vater von zwei Kindern. Dieser Text erschien zuerst am 3. September 2018 als BLICK-Kolumne.