Die Menschenrechte zählen heute zu den am wenigsten verstandenen Begriffen auf dem politischen Marktplatz. Sie sind zu einer Waffe der Linken gegen Liberale geworden, um die Macht des Staates und internationaler Institutionen zu vergrössern, die Freiheit der Bürger zu verringern und die Demokratie zu schwächen. Die Menschenrechte bezwecken jedoch genau das Gegenteil: Sie sollen die Macht des Staates beschränken, dem Bürger weitgehende Freiheiten gewähren und die Demokratie stärken. Was ist schiefgegangen?

Von Lukas Weber

Die Ursprünge der Menschenrechte reichen weit zurück – lange vor die UNO-Erklärung der Menschenrechte von 1948 und auch vor die französische Menschenrechtserklärung von 1789. Die Historiker datieren sie auf die griechisch-römische Denkschule der Stoa im 3. Jahrhundert vor Christus. Der Römer und Stoiker Seneca soll den Begriff der Menschenwürde konzipiert haben, allerdings nicht individualistisch, sondern als Pflichterfüllung der Bürger gegenüber dem Staat.

Den entscheidenden Impuls für die heutige Bedeutung erhielten die Menschenrechte durch die jüdisch-christliche Lehre der Gottebenbildlichkeit des Menschen, also die Vorstellung, dass der Mensch ein Abbild Gottes sei. Die einzigartige Würde des Menschen und dessen Stellung als Herrscher über die Natur leiten sich daraus ab, auch sein Status als Person, der nur dem Menschen und keinem anderen Lebewesen zukommt. Dies ist das Fundament, auf dem die Menschenrechte gegründet sind und ohne das sie ihre allgemeine Gültigkeit und Anerkennung über kurz oder lang verlören. Dieser Gedanke fehlt heute fast ganz in der Diskussion über Menschenrechte.

Eine frühe Manifestation von Menschenrechten war die Magna Charta (im vollen Wortlaut „Grosse Urkunde der Freiheiten“), mit der König Johann von England 1215 auf Druck des Adels persönliche Rechte auf Leben, Freiheit, Eigentum und den Schutz der Freien vor Rechtswillkür garantierte. Die hauptsächlichen Quellen der neuzeitlichen Menschenrechtsidee sind das auf die antike und christliche Philosophie zurückgehende Naturrecht, die Aufklärung und der Liberalismus. Der englische Philosoph John Locke entwickelte im 17. Jahrhundert am Beispiel des Rechts auf Leben, Freiheit und Eigentum eine frühe systematische Begründung für die Beachtung von Menschenrechten durch den Staat.

Freiheit und Menschenrechte

Die erste neuzeitliche Formulierung der Menschenrechte finden wir in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776. Sie postulierte das bekannte Recht auf „Leben, Freiheit und das Streben nach Glück“, leitete die Staatsgewalt von der Zustimmung des Volkes ab und führte ein Recht auf Änderung der Regierungsform ein, sollte die bestehende die ursprünglichen Ziele gefährden: „Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräusserlichen Rechten ausgestattet sind; dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören; dass zur Sicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingesetzt werden, die ihre rechtmässige Macht aus der Zustimmung der Regierten herleiten; dass, wenn immer irgendeine Regierungsform sich als diesen Zielen abträglich erweist, es Recht des Volkes ist, sie zu ändern oder abzuschaffen und eine neue Regierung einzusetzen und diese auf solchen Grundsätzen aufzubauen und ihre Gewalten in der Form zu organisieren, wie es ihm zur Gewährleistung seiner Sicherheit und seines Glückes geboten zu sein scheint.“

Wie schon der amerikanische Text, so postulierte auch die französische „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ von 1789 die Menschenrechte nicht individualistisch, sondern in Bezug auf die Rechte des Volkes und die Voraussetzungen einer rechtmässigen Regierung. Artikel 3 bestimmt die Nation – das Volk – als Ursprung und alleinige Sachwalterin der Staatsgewalt.

Die dritte namhafte Quelle neuzeitlicher Menschenrechte ist die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ der Vereinten Nationen (UNO) von 1948. Der UNO-Menschenrechtskatalog versammelt 30 Artikel und geht extrem weit. Er enthält das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person, Schutz vor Versklavung, Folter und willkürlicher Verhaftung, das Recht auf einen fairen Gerichtsprozess und Unschuldsvermutung, der Schutz vor willkürlichem Eingriff ins Privatleben und das Recht aufs Briefgeheimnis, die Freiheit der Wahl von Aufenthalt und Wohnort, das Recht auf Asyl, Staatsbürgerschaft und Eigentum, auf Gedanken-, Gewissens-, Religions-, Meinungs- und Ausdrucksfreiheit, auf friedliche Zusammenschlüsse und Versammlung, das aktive und passive Wahlrecht, das Recht auf soziale Sicherheit, Arbeit, Ruhe und einen der Gesundheit und dem Wohlbefinden angemessenen Lebensstandard sowie das Recht auf Bildung und die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Die UNO-Menschenrechte wurden in die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) aufgenommen, die ihrerseits 1950 von den Mitgliedsstaaten des Europarates unterzeichnet worden ist.

Was haben die Menschenrechte gebracht?

Mit den Menschenrechten setzt sich, erstens, ein personaler Menschenbegriff durch. Traditionelle Gesellschaften ordnen gewöhnlich den Einzelnen der Gemeinschaft unter. Erst im christlichen und später im liberalen Verständnis wird der Mensch als vernunftbegabtes Einzelwesen angesehen, das zur Freiheit bestimmt ist. Erst als Person ist der Mensch kein Mittel zum Zweck, sondern ein Selbstzweck. Darin erfährt der Mensch seine Würde. Diese kommt ihm allein und keinem anderen Lebewesen zu. Die Selbstverwirklichung der Person kommt in deren Werken zum Ausdruck: in der Wahrheit – etwa der Wissenschaft – als Werk des Denkens, in der Gemeinschaft als Werk der Liebe und in der Technik, der Wirtschaft und im Staat als Werke des Handelns.

Zweitens erhoben die Menschenrechte das Volk zum Souverän, das heisst zur obersten Autorität im Staat, und erklärten dadurch die Demokratie zum Normalfall unter den Staatsformen. Wenn es nichts in der Welt gibt, das wesensmässig höher steht als der Mensch – jeder Mensch! –, dann kann es auch niemanden geben, der von Natur aus über ein Volk herrschen soll. Deshalb werden in der Demokratie Staatsämter grundsätzlich durch Volkswahl verliehen und nach Ablauf einer Amtszeit automatisch entzogen. Wo dies nicht der Fall ist, da hat sich der personale Menschenbegriff noch nicht durchgesetzt, und Menschenrechte bleiben ein leeres Versprechen.

Die Menschenrechte führten, drittens, zur Beschränkung der Staatsgewalt so, dass der personale Menschenbegriff (die Würde jedes Einzelnen) und die Demokratie (die Selbstregierung des Volkes) gesichert sind. In dieser Tradition, die Menschenrechte und Souveränität des Volkes direkt miteinander verbindet, steht auch die Selbstbestimmungsinitiative, die im Herbst 2018 zur Abstimmung kommt. Sie verlangt, dass im Streitfall das schweizerische Parlament und Bundesgericht über Anwendung und Auslegung der Menschenrechte entscheiden, nicht internationale Gerichte, die vom Volk entfernt und niemandem Rechenschaft schuldig sind.

Drei Angriffe auf die Menschenrechte

Die Menschenrechte sind heute akut gefährdet. Eine offensichtliche Gefahr liegt, erstens, in ihrer Ausdehnung auf zusätzliche Geltungsbereiche. Unter dem Meinungsdruck der politischen Korrektheit, die selbst schon die Meinungsfreiheit angreift, gilt die ursprüngliche Achtung jedes Menschen immer weniger diesem an sich, sondern bestimmten Merkmalen wie beispielsweise der Rasse, dem Geschlecht oder der sexuellen Neigung. Dies ist ein Rückschritt zum Zustand vor den Menschenrechten, als dem Einzelnen, wenn überhaupt, Rechte nur wegen besonderer Eigenschaften – seiner familiären Herkunft, seines gesellschaftlichen Standes oder seines Reichtums – zukamen. Die Privilegierung aufgrund bestimmter Persönlichkeitsmerkmale war genau, was mit der Einführung der Menschenrechte beseitigt werden sollte.

Bereits die in die UNO-Charta aufgenommenen wirtschaftlichen und sozialen Rechte haben der Menschenrechtsidee überdehnt. Solche Rechte sind den Menschenrechten wesensfremd, denn Reichtum und Lebensstil sind graduelle und prinzipiell zufällige Qualitäten des Menschen, nicht grundlegende wie dessen personales Wesen, das schlechthin jedem Menschen zukommt, etwa auch dem minderjährigen, dem behinderten oder dem kranken.

Eine weitere Gefahr droht den Menschenrechten, zweitens, durch kulturelle Relativierung. Menschenrechte sind die Frucht einer bestimmten, die griechische und römische Antike weiterentwickelnden jüdisch-christlichen Zivilisation. Die Universalisierung der Menschenrechte soll deren Ursprung nicht auslöschen, sondern bietet sie der ganzen Menschheit an. Menschenrechte auf westliche Nationen zu beschränken untergräbt die Idee der Menschenrechte als die Rechte aller Menschen und schwächt schliesslich auch ihre Anerkennung im ursprünglichen Kulturkreis, dem Westen. Dies führt, drittens, zur wahrscheinlich grössten Gefahr für die Menschenrechte: die Schwächung ihrer ideellen Grundlagen, nämlich der jüdisch-christlichen Zivilisation ausgerechnet dort, wo sie einst ausgedacht und entwickelt worden sind, also in Europa und den USA. In einer Zeit der gesellschaftlichen Säkularisierung und der Auflösung der jüdisch-christlichen Glaubensgrundlage braucht es nicht einmal den Angriff einer fremden selbstbewussten Zivilisation, beispielsweise des Islam, um das Rechtswesen und das Rechtsempfinden, welche die Menschenrechte einst hervorgebracht haben, zu schwächen und schliesslich zum Verschwinden zu bringen.

Rettet die Menschenrechte

Betrachten wir heute die Gefährdung der Menschenrechte, dann ist es paradox, wenn nicht absurd, dass ausgerechnet jene – linken – Kräfte sich als die Bewahrer der Menschenrechte ausgeben, die diese durch die von ihnen betriebene Ausdehnung, Relativierung und Auflösung gerade schwächen. Die Situation wird tragisch, wenn gleichzeitig jene – liberalen – Kräfte, die die ursprüngliche und eigentliche Definition der Menschenrechte vertreten, dazu schweigen. Sie haben ein Interesse daran, sich für die Menschenrechte, wie sie einst erdacht wurden und gemeint waren, mit Nachdruck einzusetzen, sie vor der Verfremdung, Schwächung und Auslöschung durch falsche Freunde zu schützen und so fürs Volk und für die ganze Menschheit zu bewahren.

 

Lukas Weber ist freier Publizist. Er hat bei Otfried Höffe Sozialphilosophie und Politik studiert und lebt mit seiner Familie in Freiburg im Üechtland.