Die renommierte deutsche Professorin für Sexualpädagogik Karla Etschenberg hat eine kritische Stellungnahme zu den vom Bundesrat gelobten „Standards für die Sexualaufklärung in Europa“ der WHO/BZgA vorgelegt, die aufhorchen lässt.
Von Dominik Lusser
Die Kritik, die weder aus christlicher noch aus konservativer Feder stammt, bestätigt die Bedenken, welche die Stiftung Zukunft CH schon 2016 und 2018 zu den „Standards“ geäussert hat. Auch werfen Etschenbergs wissenschaftlich fundierte Ausführungen erneut ein schlechtes Licht auf den Bericht des Bundesrats zum Postulat Regazzi (14.4115). Auf die Forderung des Tessiner CVP-Nationalrats nach einer kritischen Überprüfung der wissenschaftlichen Grundlagen der Stiftung „Sexuelle Gesundheit Schweiz“ (SGCH), die am WHO-Papier mitgewirkt hatte, antwortete die Schweizer Regierung 2018 mit einer vollumfänglichen Gutheissung der „Standards“ als „zentrales internationales und evidenzbasiertes Leitpapier“. Dabei stützte sie sich auf einen dubiosen Expertenbericht, an dem unter Federführung des Bundesamtes für Gesundheit grossmehrheitlich SGCH-freundliche Experten mitgewirkt hatten.
Undemokratische Entstehung
Etschenberg hatte die „Standards“ schon 2012 bei einer von der Hochschule Luzern und SGCH ausgerichteten Tagung kritisiert. In Übereinstimmung mit Zukunft CH weist sie nun in ihrer Stellungnahme darauf hin, dass die „Standards“ nicht Ergebnis einer breiten gesellschaftlichen und fachlichen Debatte, sondern Produkt einer kleinen Gruppe selbsternannter Experten sind: „Nicht zu begrüssen ist, dass eine kleine Gruppe von sich gegenseitig als solche bezeichnenden und anerkennenden ‚Experten‘ für sich in Anspruch nimmt zu entscheiden, was eine ‚qualitativ hochwertige Sexualaufklärung‘ ist“, kritisiert Etschenberg. Im schulischen Bereich sei es immer üblich und erwünscht gewesen, „dass sich Vertreter interessierter und betroffener gesellschaftlicher Gruppen (…) gemeinsam um ein Curriculum zum Thema Sexualität vor einem konkreten sozio-kulturellen Hintergrund bemühten oder bemühen sollen.“
Die „Standards“ aber seien nicht mit den für Bildung und Erziehung an Schulen zuständigen (demokratisch etablierten) Institutionen abgestimmt bzw. öffentlich diskutiert worden, so Etschenberg. Vielmehr seien die beteiligten Personen und Institutionen aus neun europäischen Ländern nach einem intransparenten System ausgewählt worden, „bei dem tendenzielle Übereinstimmung nach Vorabsprachen eine Rolle gespielt haben könnte“. Ferner wird laut Etschenberg versucht, für die Sexualerziehung eine gesonderte ausserschulische Zuständigkeit aufzubauen, die sich der Mitsprache und Abstimmung innerhalb gesellschaftlicher Gruppen entziehe, und für die Sexualerziehung eine eigene Berufsgruppe (die der Sexualpädagogen) zu etablieren. Damit ist auch ein wesentliches Ziel von SGCH benannt.
Pädophilenfreundliche Quellen
Bereits der Begriff „Sexualaufklärung“ im Titel ist gemäss Etschenberg irreführend. „Unter dem Begriff ‚ganzheitliche Sexualaufklärung‘ (S. 15) wird das, was man gemeinhin als Sexualerziehung unter Einbeziehung von Sexualaufklärung bezeichnen würde, vom Säuglingsalter an ausformuliert. Der Begriff Aufklärung, der ‚in der Regel die Information über Fakten und Zusammenhänge zu allen Themen menschlicher Sexualität bezeichnet‘ (…), wird in den ‚Standards‘ unhinterfragt auf drei Verhaltensbereiche angewendet: ‚Information – Auskunft geben über‘, ‚Fähigkeiten – Kindern/Teenagern ermöglichen‘ und ‚Einstellung – Bei der Entwicklung helfen‘.“ Damit werde, so Etschenberg, „die Grenze von der informativen Sexualaufklärung zur Sexualerziehung mit ihren Zielen und den damit verbundenen Wertentscheidungen überschritten, ohne dass dies dem Titel nach vermutet werden kann (…).“ Ginge es wirklich um „Aufklärung“, sähen die „Standards“ anders aus und diese würden sehr wahrscheinlich auch nicht beim Neugeborenen ansetzen, kritisiert die Professorin.
Ferner ist den „Standards“ laut Etschenberg inhaltliche Intransparenz vorzuwerfen, weil in der Literaturliste als „Wissenschaftliche Literatur zur psychosexuellen Entwicklung von Kindern“ mehrheitlich Werke aufgeführt würden, die nicht in deutscher Sprache abgefasst seien. Dies mache es deutschsprachigen Lesern schwer zu durchschauen, auf welcher wissenschaftlich-theoretischen oder -empirischen Basis die „Standards“ entwickelt worden seien. In diesem Zusammenhang merkt Etschenberg an, „dass der in der Liste zweimal erwähnte Theo Sandfort 1986 in Deutschland ein Buch mit dem Titel ‚Pädophile Erlebnisse‘ veröffentlicht hat und in den Niederlanden zu den Sexualwissenschaftlern gehört, die einvernehmlichen Sex mit Kindern befürworten (…). Seine im Literaturverzeichnis der ‚Standards‘ aufgeführten Beiträge sind in niederländischer bzw. englischer Sprache verfasst. Ernest Bornemann, der in deutscher Sprache zum Thema Kindersexualität veröffentlicht hat und der wegen seiner uneindeutigen Stellungnahmen zum Thema Pädophilie und Missbrauch (…) in dieser Frage umstritten ist, kommt in der Literaturliste mit einer englischen Veröffentlichung vor (‚Childhood phases of maturity‘ 1994).“
Zu dieser Thematik hat Zukunft CH schon in einer 2016 veröffentlichten Kritik an den WHO-Standards (S. 12, Anm. 36) angemerkt: „Der erklärtermassen pro-pädophile Psychologe Theo Sandfort ist Mitbegründer der 1995 eingestellten holländischen Pädophilen-Zeitschrift Paidika (…). Sein Werk „Childhood sexuality“, das die „Standards“ im Literaturverzeichnis anführen, handle „bezeichnenderweise vom Prozess der Körper-Entdeckung unter Kindern‘“. Mit dem Wiener Psychiater Raphael Bonelli ist daran zu erinnern, dass die Frühsexualisierung das „Muster der Pädophilen“ ist.
„Sexuell“ aktive Kinder als Massstab?
Welche theoretische Sicht von Kinder-„Sexualität“ liegt den „Standards“ also zugrunde, so fragt sich Etschenberg, wenn z.B. über Kinder bis zu 10 Jahren gesagt werde: „Kinder haben schon im frühen Alter sexuelle Gefühle“ (S. 27). Oder: „Umfassende beobachtende Studien haben belegt, dass es typische sexuelle Verhaltensweisen bei Kindern gibt, die als normal anzusehen sind“ (S. 27). Etschenberg merkt dazu kritisch an: „Diese Aussage (die nicht mit einer Quelle belegt ist), ist im Prinzip sicherlich richtig, was die Beobachtung bestimmter Verhaltensweisen bei vielen (nicht bei allen!) Kindern betrifft, aber wer entscheidet – ohne begriffliche Unterscheidung zu ähnlichen adulten Verhaltensweisen –, dass es sich um ‚sexuelle‘ Verhaltensweisen handelt? Bei den 4-6-Jährigen ist dann auch die Rede von ‚sexuellen Spielen‘, wenn es um die neugierige Erkundung des Körpers geht (S. 28). Problematisch in diesem Kontext ist auch, dass auf Seite 27 und in dem Kapitel ‚Matrix‘ beim Thema Sexualität für 0-4-Jährige der Begriff ‚Masturbation‘ gewählt wird (S. 42). Der Begriff wird üblicherweise benutzt für eine Selbststimulation bis zum Orgasmus und passt zu der Selbststimulation bei Kleinkindern nur selten bzw. überhaupt nicht, wenn man begleitende erotische Phantasien als Merkmal der Masturbation mit bedenkt (…).“ Hier aber werde der Eindruck einer Regelhaftigkeit erweckt.
Auch die Aussage „Bei einem Drittel der achtjährigen Jungen wurden sexuelle Spiele beobachtet“ (S. 27, ohne Quelle), sei zwar plausibel, provoziere aber die gleichen Fragen und zusätzlich die Frage, ob man nicht die zwei Drittel der Jungen, bei denen keine sexuellen Spiele beobachtet worden seien, nicht auch als „normal“ zu erwähnen wären. (Vgl. dazu: Zukunft CH (2018), S. 13–19)
Bedenklich bezüglich Altersgemässheit und Umsetzbarkeit ist für Etschenberg auch, dass gemäss den „Standards“ bei Sechs- bis Neunjährigen das „Verständnis für ‚akzeptablen Sex‘ (konsensual, freiwillig, gleichberechtigt, altersgerecht, kontextadäquat und unter Wahrung der Selbstachtung)“ (S. 46) als Einstellung gefördert werden soll. Denn dafür müssten Kinder dieses Alters erst über variationsreichen Umgang mit Sex informiert werden.
Hörige Bundesverwaltung
Etschenberg kommt zum bedenklichen Schluss: „Weder den Kultusbehörden noch den Lehrpersonen noch den Eltern ist zumutbar, sich an Hand dieser Literatur und der Texte im Heft ein Bild vom wissenschaftlichen Hintergrund der ‚Standards‘ zu erarbeiten und zu durchschauen, worauf die ‚Standards‘ bezüglich infantilsexuellem Verhalten eigentlich hinaus wollen. Diese Feststellung ist wichtig, da die Standards den Anspruch erheben, einen Bezugsrahmen für Curricula in Kita und Schule zu liefern.“ Und weiter: „Man kann den Eindruck bekommen, dass es in diesen ‚Standards‘ nicht nur um Aufklärung/Erziehung im Sinne von sexualfreundlicher Begleitung geht, sondern auch darum, den Teil der Kinder, die sich ‚sexuell‘ aktiv zeigen, zum Massstab für die anderen Kinder zu machen.“
Angesichts solcher Bedenken ist es unverständlich, warum sich der Bundesrat bislang weigert, Kritik an den „WHO-Standards“ bzw. SGCH und deren zunehmenden Einfluss in Schweizer Schulen ernst zu nehmen. Auf entsprechende parlamentarische Vorstösse (z.B.: 18.3751; 18.3075) reagiert die Regierung in der Regel mit fadenscheinigen Erklärungen, die Ausweichmanöver gleichen (Vgl. hier und hier, S. 4). Es wird noch vieler demokratischer Interventionen bedürfen, um das Hörigkeitsverhältnis der Bundesverwaltung gegenüber der privaten, aber weitgehend durch Steuergelder finanzierten Organisation SGCH aufzulösen. Allen Schweizer Kindern zuliebe lohnt sich dieses Engagement aber auf jeden Fall.