Das „Grosse Gebet der Eidgenossen“ ist eine der ältesten und schönsten Blüten schweizerischer Volkfrömmigkeit. Eine zukunftsweisende Spurensuche in Vergangenheit und Gegenwart.
Von Dominik Lusser
Die Gründungsurkunde der Schweiz, der Bundesbrief von 1291, beginnt mit der Anrufung: „Im Namen Gottes, Amen.“ Auch spätere Bündnisse bis hin zur revidierten Bundesverfassung von 1999 rufen in der Präambel Gott zum Zeugen an. Ein ebenso bedeutendes, heute freilich in der Öffentlichkeit kaum mehr bekanntes Zeugnis der christlichen Wurzeln der Schweiz ist das „Grosse Gebet der Eidgenossen“.
Die mehr als drei Stunden dauernde Gemeinschaftsandacht wurde seit dem Spätmittealter in Zeiten grosser Not vom Volk gebetet, bisweilen auch von der weltlichen Obrigkeit als Bitt- und Bussandacht verordnet. Mancherorts, besonders im Kanton Schwyz, wurde das „Grosse Gebet der Eidgenossen“ bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts am Eidgenössischen Dank-, Buss- und Bettag abgehalten, der dieses Jahr am 15. September begangen wird. Und auch heute noch wird die altehrwürdige Übung schweizerischer Volksfrömmigkeit in kleinen Gruppen gepflegt.
Meditation und Bittgebet
Das „Grosse Gebet der Eidgenossen“ ist in sechs, inhaltlich stark voneinander abweichenden Fassungen des 16. und 17. Jahrhunderts überliefert. Die älteste Fassung liegt in einer Handschrift aus dem Benediktinerinnenkloster Hermetschwil von 1517 vor. Das Gebet besteht, je nach Fassung, aus 88 bis 130 Betrachtungen, welche die wichtigsten Stationen der Heilsgeschichte, angefangen von der Schöpfung bis zur Gründung der Kirche und zur Ausgiessung des Heiligen Geistes an Pfingsten, zum Inhalt haben. Jede Betrachtung schliesst mit einer Bitte. Darauf folgt eine Anzahl von Vater Unser und/oder Ave Maria in einer jeweils bestimmten Gebetshaltung: stehend, kniend, sitzend, auf der Erde liegend, mit erhobenen Händen, mit ausgebreiteten oder gekreuzten Armen.
Durch die drei- bis siebenfache Wiederholung dieser Reihengebete entsteht ein geistlicher Raum, in dem der Betende bei dem vom Vorbeter verlesenen Betrachtungstext verweilen kann. Die grossen Geheimnisse des christlichen Glaubens treten so ins Blickfeld, entzünden die Vorstellungskraft und die Liebe zu Gott. „Wie Gott das Volk der Juden durch die vierzigjährige Wanderung durch die Wüste geistig und aszetisch geformt hat, so wird das Volk bei diesem Gang durch die Geschichte des Gottesreiches religiös unterwiesen und in die Lage versetzt, sich die grossen Wahrheiten des christlichen Glaubens durch Gebet und Meditation geistig anzueignen,“ schreib Arnold Guillet, Herausgeber der jüngsten Neubearbeitung von 1973: „Der Christ erfährt, was Gott für ihn getan hat und was er nun für Gott tun soll. Der grosse Plan Gottes öffnet seine Horizonte, und die Seele beginnt ein Zwiegespräch mit ihrem Schöpfer, dem sie mit kindlichem Vertrauen ihre Nöte und Anliegen unterbreitet.“
Heinrich Seuse und Bruder Klaus
Woher aber stammt dieses Gebet? Manche Forscher sehen eine Verbindungslinie zu den mittelalterlichen Mystikerkreisen der Bettelorden, vor allem der Dominikaner. So finden wir in den Betrachtungsweisen des Mystikers Heinrich Seuse von Konstanz oder in den Schriften der Dominikanerinnen von Töss eine ganz ähnliche Art der Verbindung von betrachtendem und mündlichem Gebet.
Weit deutlichere Spuren führen zu Niklaus von Flüe (1417-1487), dem Einsiedler vom Ranft im Kanton Obwalden. So lag der Fassung des „Grossen Gebets“, die Petrus Canisius 1585 in Freiburg herausgab, die Abschrift eines Gebetbüchleins zugrunde, das sich im Privatbesitz von Ritter Melchior Lussy zu Stans befand. Ob dieses Büchlein einst sogar Bruder Klaus selbst gehörte hatte, wie Lussy meinte, oder ob zumindest ein Teil der im Büchlein enthaltenen 92 Betrachtungen auf den Eremiten zurückgehen, muss offenbleiben. Der Historiker Robert Durrer ist jedenfalls der Ansicht, dass sich die von Canisius herausgegeben Meditationen „inhaltlich und formell mit dem sogenannten ‚Grossen Gebet‘ der Eidgenossen aufs Engste berühren“.
Der Freiburger Dominikaner Heinrich Stirnimann sieht das „Grosse Gebet der Eidgenossen“ ferner in Zusammenhang mit der im 15. Jahrhundert einsetzenden volkstümlichen Verbreitung der „Leben-Jesu-Geheiminisse“ bzw. des Rosenkranzgebets. Diesen Zusammenhang scheint auch die Entwicklung des „Grossen Gebets“ im Kanton Uri zu bestätigen, wo es im 18.Jahrhundert in Form einer Rosenkranzandacht gebetet wurde. „Bei allen fünfzehn Geheimnissen des freudenreichen, schmerzhaften und glorreichen Rosenkranzes las der Priester zehn Betrachtungstexte, die das Geheimnis näher darlegten“, schreibt die Theologin Eva-Maria Faber. Und das Volk habe nach jeder Betrachtung mit einem Ave Maria geantwortet.
Das Palladium der Eidgenossenschaft
Zu einer eigentlichen „Nationalandacht“ (Durrer) entwickelte sich das „Grosse Gebet der Eidgenossen“ in Schwyz. Die besondere Wichtigkeit des Gebets in diesem Kanton wird auch durch die Textgeschichte belegt. Von den heute bekannten fünf Handschriften stammen laut dem 2003 verstorbenen St. Galler Stiftsbibliothekar Peter Ochsenbein zwei aus Klöstern, die übrigen drei waren auf dem Gebiet des heutigen Kantons Schwyz in Gebrauch. Und mit Ausnahme der 1585 in Freiburg gedruckten Canisius-Fassung sind vermutlich alle zehn nachgewiesenen älteren Drucke des „Grosse Gebets“ (vom ältesten Einsiedler Druck von 1671 bis zum jüngsten Schwyzer Druck von 1905) für Schwyz angefertigt worden.
Wer sich ins „Grosse Gebet der Eidgenossen“ vertieft, merkt bald, dass er es mit einem religiösen Vermächtnis zu tun hat, mit einem „Denkmal des Gottvertrauens“ (Guillet) oder, wie es der Leipziger Lutherische Theologe Franz Delitzsch formuliert hat, mit dem „Palladium (schützendes Heiligtum, Anm. d. Red.) der drei schweizerischen Urkantone“.
Wie haben die alten Eidgenossen das Evangelium aufgenommen? Wie hat ihr Herz auf den Anruf Gottes reagiert und wie haben sie in der Folge ihr Leben auf Gott ausgerichtet? Wie haben sie zu Gott gerufen in ihren existentiellen Nöten? Dies sind für Guillet, der das „Grosse Gebet“ in die Sprache seiner Zeit – der 1970er-Jahre – übertragen hat, „Fragen, die für uns Nachkommen von grossem Interesse sind“. Denn das Schlimmste, was einem Volk widerfahren könne, sei, geschichtslos zu werden und die Verbindung zur Vergangenheit zu verlieren, „wenn der geistige Lebensstrom, der geistige Kontakt mit den Vorfahren abreisst“.
Zeit für einen Relaunch
Bei dem Versuch, das „Grosse Gebet“ neu zu beleben, kann es nicht um blosse Folklore und Traditionalismus gehen. Damit würde man der Sache nicht gerecht. Vielleicht müsste darum dieses Gebet, wie Ochsenbein anregte, von einem theologisch geschulten Dichter oder einem dichterisch begabten Theologen „neu und auf unsere Zeit hin geschrieben werden“. Die originelle Form des „Grossen Gebets“ jedenfalls, das gemeinschaftliche meditierende Beten der zentralen Glaubensgeheimnisse, dürfte auch für einen heutigen Christen so aktuell und bereichernd sein wie vor sechshundert Jahren. Doch entscheidend ist vor allem der Inhalt: „Das ‚Grosse Gebet‘ spricht Wahrheiten aus und formuliert Bitten, die nichts von ihrer Gültigkeit eingebüsst haben“, schreib Guillet. Er ist überzeugt, dass nach dem voraussehbaren Sturz der modernen Götzen das gläubige Volk zu dieser kräftigen Kost zurückkehren wird und dass es wieder erkennen lernt, wo die Wurzeln seiner Kraft verlaufen.
Vermutlich hat die Praxis des „Grossen Gebets“ nie ganz aufgehört. Immer wieder haben sich kleine Gruppen oder Familien im privaten Kreis zu dieser Andacht versammelt. Zuletzt wurde die Tradition des „Grosse Gebets“ von Laien im Freiamt wieder aufgenommen. Am 19. Oktober 2019 (13.30 Uhr) wird es nach 2017 und 2018 zum dritten Mal in Folge gebetet; zum zweiten Mal in Villmergen. Die Pfarrei hat das Gebet in ihr Programm aufgenommen und stellt die Nothelferkapelle zur Verfügung. Letztes Jahr fanden sich dort 20 Personen zum Gebet ein, darunter viele junge Erwachsene und sogar Schulkinder.
Die Freiämter Gruppe versteht sich als eine Gebetsinitiative für die Schweiz. Markus, der Organisator des Gebets, wünscht sich, „dass das Beten für die Heimat wieder mehr an Bedeutung gewinnt.“ Ob ein sprachliches Update dem „Grossen Gebet“ wieder mehr Aufmerksamkeit einbrächte, ist für den 27-Jährige Marketing-Manager fraglich. Er persönlich schätzt die „hin und wieder etwas altmodischen Formulierungen“. Sie seien sehr direkt. Und wer das Gebet beten wolle, der bete es „so oder so, ungeachtet der Sprache“. Anderseits macht er sich auch keine Illusionen: „Wer ‚opfert‘ heute schon mehr als drei Stunden fürs Gebet?“ Dazu muss man wohl vom Inhalt des Gebets angetan sein, wie die Teilnehmerin, die erklärt: „Die ganze Heilsgeschichte bis Karfreitag und Ostern meditierend zu durchbeten, das ist einfach sehr schön.“
Der betende Mensch
Das „Grosse Gebet der Eidgenossen“ ist bestimmt nicht vom Typ der niederschwelligen Angebote, mit denen sich Pfarreien – meist vergeblich – gegen die schwindende Zahl der Gottesdienstbesucher stämmen. „Aber vielleicht sind die leeren Bänke auch die Folge davon, dass die Kirche den Leuten immer weniger zumutet?“, fragt sich Initiant Markus. Junge Leute suchten auch heute noch die Herausforderung, „wenn sie darin einen Sinn sehen“, ist er überzeugt. Ein anderer Freiämter, der das „Grosse Gebet“ schon mehrmals gebetet hat, mit anderen oder auch ganz alleine, stellt folgenden Vergleich an: „Die Laieninitiative in der Pfarrei Villmergen ist zwar ein zartes Pflänzchen. Aber es ist wie ein Trieb auf einem mächtigen Baum mit tiefen Wurzeln, denen kein Sommer zu heiss werden kann.“
Es dürfte kein Zufall sein, dass das „Grosse Gebet der Eidgenossen“ in der Schwyzer Pfarrei St. Martin als Bettagsandacht zum bisher letzten Mal im Schicksalsjahr 1968 gebetet wurde, als auch bei vielen Christen eine unkontrollierte Rebellion gegen Altbewährtes entbrannte. Als Kern dieser Auflehnung zeigt sich bei näherem Hinsehen ein verhängnisvoller Wandel im Menschenbild: Der sogenannt emanzipierte Mensch stellt nicht mehr Gott, sondern sich selbst ins Zentrum. Auch in manchen Pfarreien hat eine lähmende Selbstbezogenheit Einzug gehalten, welche die grossen Fragen der Menschen und ihre existentiellen Nöte ohne authentisch christliche Antworten zurücklässt. Guillet sah diesbezüglich klar, als er schrieb: „In jedem Menschen ist ein Abgrund, der nur von Gott ausgefüllt werden kann.“ So betrachtet muss die Praxis des „Grossen Gebets“ als ein prophetisches Zeichen für eine Menschheit gesehen werden, die verzweifelt nur noch um sich selbst kreist.
In seinem Buch „Gott oder nichts“ (2015) beschreibt Robert Kardinal Sarah, Präfekt der Kongregation für den Gottesdienst, das Gebet als eine „authentische Form des Heroismus (…) und der Erhabenheit. Der Mensch ist erst dann gross, wenn er vor Gott kniet.“ Das „Grosse Gebet“ ist ein starker Ausdruck dieses Geistes der Demut und der Gottesfurcht, aus dem jedes wahre Beten entspringt. In einem Punkt schöpft die Freiämter Gebetsgruppe den Reichtum des „Grossen Gebets“ allerdings noch nicht aus. So wurde bisher auf die wechselnden Körperhaltungen verzichtet, die jeweils passend zu den Betrachtungen vorgesehen sind. Die ausdrucksstarke Körpersprache wäre zweifellos eine Hilfe, noch tiefer ins Gebet einzutauchen. Damit der Mensch seiner tiefsten Berufung nachkommen kann, als Ganzes – mit Leib und Seele – ein lebendiger Lobpreis Gottes zu sein (vgl. Epheser 1, 12).