Pornografie und Medienkonsum: Warum Eltern und Schulen die Kontrolle über die Smartphones wiedergewinnen sollten.
Von Jürgen Liminski
Die Diskussion läuft schon seit Monaten, Leitmedien wie Spiegel und Süddeutsche äussern sich besorgt: Immer mehr Kinder und Jugendliche konsumieren wie selbstverständlich pornografisches Material auf ihren Smartphones. Auch die Politik wacht langsam auf, seit Ende Oktober ein Ring von 12 – bis 25jährigen aufgedeckt wurde, der solches Material geschäftsmässig vertrieb. Niemand, kein Kind ist davor gefeit, weil es über Smartphone und Internet eben einfach geworden ist wie ein Kinderspiel. Denn seit 2012, dem Jahr, in dem das Smartphone technisch so weit war, dass es im Konsumverhalten den Computer ablöste und weltweit zum „handlichen Artikel“, also auch in Kinder- und Jugendhand wurde, erlebt die Porno-Industrie einen nahezu unkontrollierten Aufschwung.
Die erste Welle war mit dem Aufkommen des Internet schon Anfang der neunziger Jahre spürbar, aber mit dem internetfähigen Handy, so erklären Experten (sie wollen wegen der Skrupellosigkeit dieser Mafia lieber unerwähnt bleiben), „erfolgte ein Quantensprung. Heute haben 85 Prozent der Jungen und 71 Prozent der Mädchen zwischen 14 und 16 Jahren bereits pornografisches Material gesehen“. Das Einstiegsalter liege bei 12 Jahren, unabhängig von Familiensituation und Schulform. Das Datenvolumen, das hier weltweit bewegt werde, sei vergleichbar mit dem von Google, schon weil es viele Fotos und Filme umfasse. Die sich explosionsartig vergrössernde Industrie reiche in Deutschland mit ihren Umsätzen an die Autoindustrie heran. Man könne durchaus von einer drohenden Suchtepidemie sprechen. Allerdings werde Pornografie-Abhängigkeit offiziell nicht als Sucht anerkannt, „obwohl sie sämtliche Kriterien psychischer Krankheiten erfüllt“. Es sei wegen der raschen Zunahme der Süchtigenzahl auch durchaus Thema bei internationalen Kongressen und Veranstaltungen gewesen, ob man Porno-Sucht im Internationalen Kompendium für Krankheiten (ICD) aufführe, das alle sechs Jahre aktualisiert werde. „Aber man wollte nicht, obwohl die Kriterien 1:1 zu anderen Süchten passten. Das betrifft sowohl die neurologischen Prozesse als auch die Dosis-Steigerung wie bei stoffgebundenen Drogen, es gilt für die Symptome wie sozialer Rückzug bis hin zum Zerfall der Persönlichkeit“. Die derzeitigen Trends der Psychotherapie haben derzeit ein anderes Verständnis von Krankheit. Man fragt: Was will der Kranke? Und nicht: Was heilt?
In diesem Sinn wird Pornografie verharmlost, auch Kinderpornografie, und der Pädophilie wieder eine Tür geöffnet. Es kommt darauf an, wie man Pornografie definiert. Die noch gängige Definition lautet: Bei Pornografie handelt es sich um Material über sexuelle Handlungen, das darauf abzielt, sexuell zu stimulieren. In der Stimulierung liegt die Gefahr. Sie verlangt bei anhaltendem und dauerhaftem Konsum eine immer höhere Dosierung und endet in der Ausschaltung des freien Willens, eben in der Sucht. Warum Porno-Konsum überhaupt attraktiv ist, wird in Expertenkreisen erklärt mit drei A’s: accessibility affordability, anonymity – leichter Zugang, man kann es sich leisten, man bleibt anonym. Ein Bestreben, den reinen Lustaspekt von Sexualität (neben den Aspekten Beziehung und Fruchtbarkeit) zu erleben, hat es schon immer gegeben, zum Beispiel in Form von Prostitution. Dieses Bestreben ist aber noch nie so einfach (accessibility) und kostengünstig (affordabilty) und zu so geringen sozialen Risiken (anonymity) zu befriedigen gewesen wie durch Pornografie auf einem mobilen Endgerät.
Porno-Sucht hat selbstverständlich Auswirkungen auf die Beziehungswelt des Süchtigen. Sie verringert die Bindungs-und Empathiefähigkeit, erhöht den sexuellen Leistungsdruck und führt auf Dauer zu aggressivem Verhalten, vor allem von Männern gegenüber Frauen. Die Langzeit-Nutzung von Pornografie lasse Männer Vergewaltigungen als weniger schwere Verbrechen sehen, was auch durch die #Metoo-Bewegung nicht signifikant beeinträchtigt wurde. Zugute kommt der Porno-Industrie, dass dieser Bereich gesellschaftlich stark tabuisiert ist, man redet kaum noch über Werte, Schamgefühl und sexuelle Grenzen. Hier ist ein Bereich, wo Familien und Schulen, die den Anspruch haben, Werte, Moral und menschliches Verhalten zu vermitteln, präventiv wirken können. Prävention ist besser als Abschottung. Es ist besser, das Problem zu kennen und mit ihm umzugehen. Die Sprachlosigkeit in diesem Bereich sei in christlichen Familien nach der Erfahrung von Experten „leider immer noch weit verbreitet. Über Sexualität redet man nicht, über Pornografie schon gar nicht“. Das sei im Zeitalter vor dem Internet noch machbar gewesen. „Vor 1990 musste man sich für Pornografie entscheiden, wenn man sie konsumieren wollte. Heute ist sie omnipräsent. Heute muss man sich dagegen entscheiden, wie bei jeder Sucht“. Zwar gibt es technische Möglichkeiten wie Kindersicherungen. Aber die könnten junge Leute heute leicht umgehen oder einfach beim Klassenkameraden auf den Schirm schauen. „Das Handy ist wie Kokain in der Tasche“.
Aufklären ist das Gebot der Stunde. Das kann in der Familie geschehen, das kann auch systematisch in der Schule gehandhabt werden. Es gibt Vereine und Initiativen, die den Schulen entsprechende Programme anbieten, auch nach Geschlechtern getrennt, auch für Eltern. Diese Programme seien modern und altersgerecht, das Personal gut ausgebildet und deutschlandweit einsatzbereit. Zu erwähnen wäre hier beispielsweise die „return gemeinnützige GmbH“ (www.return-to-reality.de). Es geht darum, das Bewusstsein für diese Gefahr zu schärfen. Immerhin steht die Bindungs-und Liebesfähigkeit junger Generationen auf dem Spiel. Das betrifft auch junge Menschen, die selber nicht Pornografie konsumieren. Denn die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass sie einen Freund oder Partnerin kennenlernen, der/die bereits konsumiert hat (85 Prozent der Jungen, 71 Prozent der Mädchen bis 16 Jahren).
In anderen europäischen Ländern ist der Präventionskampf bereits im Gange. In Frankreich finden Tagungen zu diesem Thema statt und formieren sich Gruppen zum Kampf gegen die Porno-Gefahren. In Spanien meldet sich auch die Kirche zu Wort. Der Bischof von San Sebastian, Jose Ignacio Munilla, ergreift jede Gelegenheit, um vor der „Invasion in unsere Kultur“ zu warnen“. Selbst linksliberale Medien wie die Tageszeitungen „El Pais“ würden von den Suchtgefahren sprechen, „der Westen sei von der freien Liebe der 68er in der Sklaverei des 21.Jahrhunderts gelandet“. Msgr. Munilla nennt sieben Gründe, weshalb man den Kampf aufnehmen müsse: Es gehe um den Menschen als Person; Pornografie töte die Liebe der Ehepaare (25 Prozent der Scheidungen erfolgten wegen Porno-Sucht); Porno zerstöre die wahre Sexualität, verzerre die Sicht von Mann und Frau füreinander, mache egoistisch und raube die Fähigkeit zur Freude; Pornografie „versklave und verhindere, dass der Geist Gottes Wohnung im Herzen der Menschen nehmen könne“. Munilla bietet eine Reihe von praktischen Massnahmen und Verhaltensregeln an, wie etwa das Schlafzimmer frei zu halten von Bildschirmen, denn die seien eine Versuchung. Von deutschen Bischöfen wird man zu dem Thema vermutlich kaum etwas hören. Die anhaltende Missbrauchsdebatte hat ihre Glauwürdigkeit in diesem Bereich stark beschädigt.
In der Tat gehört die Kontrolle über den Bildschirm zu den besten Methoden der Prävention. Das geht allein schon aus den Daten zum Medienkonsum hervor. Die 12- bis 19jährigen in Deutschland sind täglich drei Stunden und 20 Minuten online. Vor zehn Jahren war es mit 99 Minuten nicht mal die Hälfte. Insgesamt verbringen die Jugendlichen mit der Nutzung von Massenmedien, also Radio, Fernsehen, Zeitungen plus Smartphone knapp acht Stunden pro Tag. 1970 waren es drei Stunden und 27 Minuten. Das sind Ergebnisse der sogenannten Jim-Studie aus dem Jahr 2016. Nach einer in diesem Jahr veröffentlichten Studie der DAK und des Hamburger Uni-Klinikums verbringen die 12- bis 17jährigen im Schnitt fünf Stunden mit WhatsApp, Facebook, Instagram und anderen sogenannten sozialen Medien. Die Nutzungszeiten für Computerspiele kommen noch hinzu. Weitere Studien bestätigen den steigenden Konsum des Internets.
Die Folgen sind dramatisch. Junge Menschen treffen weniger Freunde und verlassen seltener das Haus. Sie stehen im Dauerkontakt mit gleichaltrigen Online-Freunden. Man nennt sie POPC, permanently online – permanently connected. Mittlerweile sind nach der Hamburger Studie 2,6 Prozent der POPC-Jugendlichen von den sozialen Medien abhängig. Jugendpsychologen und –psychiater bestätigen, dass die Internetsucht heute die häufigste Krankheit ist, mit der sie in ihren Praxen zu tun haben. Häufig geht sie mit anderen Krankheiten einher, man spricht vom ISO-Syndrom. I steht für Internetsucht, S für Schulschwänzen, O für Obesitas, krankhaftes Übergewicht. Die Betroffenen haben ein Symptom und die beiden anderen kommen dann dazu, meist steht am Anfang die Internetsucht. Sie zeigt sich auch in der Nomophobie, der Angst ohne Handy zu sein. An dieser Angst leiden nach einer PISA-Studie 41 Prozent der Digital Natives, also jene Generation, die mit Online-Geräten aufgewachsen ist.
Auch ohne Sucht sind die Folgen gravierend. Die „Kultur des gesenkten Blicks“ führt zu Konzentrationsmängeln und zu einer geringen Aufmerksamkeitsspanne. 95 Prozent der Jugendlichen haben ein Smartphone und schauen alle sieben Minuten drauf. Nicht nur Schulleistungen leiden darunter, auch ganz elementare Fähigkeiten wie das Lesen. Jeder fünfte Viertklässler verfehlt die Mindeststandards im Bereich Lesen. Das betrifft, so das Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB), vor allem Jugendliche in Grossstädten, überproportional ist der Anteil der Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Entscheidend ist aber nicht die Herkunft, sondern das soziale Setting (Milieu, Medienkonsum in der Familie, Stellenwert von Büchern, Haltung gegenüber Bildung und Bildungssystem). Vietnamesische Schüler zum Beispiel lernen schneller und besser lesen als deutsche, islamisch geprägte Schüler haben hier deutliche Nachteile.
Diese Daten sind kein deutsches Phänomen. Weltweit hat sich die „screen-time“, die Zeit, in der Jugendliche auf einen grossen oder kleinen Bildschirm schauen, in den letzten zwanzig Jahren dramatisch erhöht. Die screen-time ist das Einfallstor auch für Pornografie. Sie zu begrenzen und den Schirm zu kontrollieren ist wie das „Kokain in der Tasche“ wegzuwerfen. Eine Studie der amerikanischen San Diego State University mit mehr als einer Million Jugendlichen zwischen 13 und 18 Jahren konnte einen engen Zusammenhang erkennen zwischen Medienkonsum und Wohlbefinden. Mit anderen Worten: Die Laune sinkt proportional zur Dauer des Medienkonsums, wer lange glotzt wird übellaunig und aggressiv. Das ist zwar nicht neu, Eltern stellen das bei ihren Kindern immer wieder fest. Aber der wissenschaftliche Nachweis dient als Argument, um den Medienkonsum einzuschränken – übrigens nicht nur bei Kindern.
Bei deutlichen Krankheitssymptomen (Nomophobie) wie dem Starren auf das Handy alle drei, vier Minuten, sollten Eltern sich ernsthaft Gedanken machen, ob sie nicht psychologische Hilfe suchen. Viele Pädagogen, Psychologen und Verhaltensforscher empfehlen die Einschränkung des Medienkonsums, zum Beispiel eine „screen-time“ von weniger als zwei Stunden pro Tag, so die Psychologie-Professorin J.M. Twenge, die die Studie der San Diego-University leitete. Zu erhöhen sei dagegen die Zeit für Sport und für Treffen mit Freunden ohne Handy oder Computerspiel. Schon früher hat eine Freiburger Gruppe von Verhaltensforschern empfohlen, dass Kinder und Jugendliche mindestens eine Stunde vor dem Zubettgehen kein Fernsehen sehen sollten. Bewegte Bilder gehen im Kopf nach und beeinträchtigen den Schlaf. Das gilt freilich auch für das Smartphone, dessen Licht allein schon das Hirn fesselt. Was aber tun in dieser Zeit? Die Antwort heisst: Lesen. Auf Papier lesen, nicht auf dem Bildschirm. Das Gehirn verarbeitet anders, memorisiert anders. Ideal ist, vor allem bei kleinen Kindern, das Vorlesen.
Die Antwort kann auch, je nach Alter der Kinder, lauten: Gemeinsam spielen. Gesellschaftsspiele prägen emotional und intellektuell. Sie können Erlebnisse werden, an die man sich sehr viel länger und intensiver erinnert als an einen Film. Sie vermitteln, anders als die Medien, echte und reale Glücksmomente. Und sie fördern, so ganz nebenbei, eine Tugend, die in der Hektik der Welt immer stärker gesucht wird: Ausdauer. Der Autor hat einmal in einem Doppelinterview den Kopf der Pisa-Studien, Andreas Schleicher, und den Nobelpreisträger Gary Becker, der seinen Preis dafür bekam, weil er den Begriff des Humanvermögens in die Wirtschaftswissenschaften eingeführt hatte, gefragt, welche Eigenschaft man in der Familie lerne, die Gesellschaft und Wirtschaft nicht vermitteln könnten, aber dringend bräuchten. Beide antworteten wie aus der Pistole geschossen: Ausdauer. Ausdauer ist wie jede Tugend auch eine Frage des Willens und der Übung. Übermässiger Online-Konsum aber ist dieser Fähigkeit abträglich, er fesselt die Aufmerksamkeit, schwächt die Willenskraft und öffnet das Tor zu Süchten – und zum Missbrauch.
Der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul bezeichnet die Szene mit Kinderpornografie im Internet als „ungeheuerlich“. Es werde zu wenig dagegen getan, schon auf der Seite der Legislative. Kinderpornografie und Kindesmissbrauch sei ein „grenzüberschreitendes Massenphänomen“, sagte er im Deutschlandfunk. Je intensiver man hier ermittle, umso umfassender würden die Erkenntnisse. Das Netz biete den Verbrechern immense Möglichkeiten. „Es ist ungeheuer, was da los ist“. Umso dringender ist die Prävention – gerade in den Netzmedien und ihren Empfangsmöglichkeiten.
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Quelle: Institut für Demografie, Allgemeinwohl und Familie (iDAF), Aufsatz 4/2019.