Bildungspolitisch Verantwortliche bestimmen die Strategie. Die „Frontleute“ setzen die Vorgaben um. In methodischer Freiheit. So will es die Theorie. Doch die pädagogische Wirklichkeit zeigt oft etwas anderes.
Von Carl Bossard
„Wenn wir im Prinzipiellen nicht einig sind, ist es sinnlos, Pläne – oder Konzepte – zu schmieden“, soll der chinesische Philosoph Lao Tse gesagt haben. Und geschweige denn ins Operationelle hinunterzusteigen, sei beigefügt.
Kongruenz im Prinzipiellen ermöglich Freiheit im Operativen
Im Prinzipiellen einig sein, damit sich das Operative, das Konkrete, die Alltagsarbeit an etwas Übergeordnetem orientieren kann: Das ist der Grundsatz, um wirksame Ergebnisse zu erhalten. Kongruenz im Prinzipiellen lässt zudem Freiheit im Operativen zu. Nur so kann der Einzelne an der Basis situativ richtig reagieren. „Make maximum use of principles!“ hiess darum die Maxime von Peter Drucker, dem US-amerikanischen Ökonomen und originellen Managementdenker.
Wie eng Prinzipielles und Operationelles zusammenhängen, zeigt sich am Beispiel des Frühfranzösisch im „Passepartout“-Raum. Es wird ab der dritten Klasse unterrichtet. Die sechs Kantone Bern, Basel-Stadt, Baselland, Solothurn, Freiburg und Wallis einigten sich auf ein gemeinsames Prinzip: Die Kinder tauchen in die neue Fremdsprache ein; sie nehmen – metaphorisch gesprochen – ein „Sprachbad“. Auf das systematische Erlernen von Wortschatz und grammatikalischen Strukturen wird bewusst verzichtet, obwohl gewisse Lerntypen damit gezielter vorwärtskämen. Im Sprachbad lernt man es en passant – beim Zuhören und Sprechen. Korrigieren sollen die Lehrer nur zurückhaltend. So will es die Strategie der Bildungsverantwortlichen.
Viele Schüler erreichen nicht einmal „elementares Niveau“
Fürs Operative, für den konkreten Schulalltag entwickelten Bildungsstäbe und Experten das Lehrmittel „Mille feuilles“. Es kam 2011 auf den Markt und ist Teil des 50 Millionen teuren Fremdsprachenkonzepts „Passepartout“. Das Unterrichtsmedium setzt die Strategie des Sprachbads um. Es ist obligatorisch. Schon bald wurden Kritiken und Klagen laut. Der Tenor von Lehrer- und Elternseite: Mit „Mille feuilles“ lernten die Kinder viel zu wenig. Das Lehrmittel sei unübersichtlich, unstrukturiert und wenig praxistauglich, ein systematisches Arbeiten nicht möglich.
Die Vorwürfe wirkten: Die Lehrmittel-Autoren besserten operativ nach, schufen Zusatzmaterialien und Übungsunterlagen, doch die Lernresultate verbesserten sich kaum. Die Studie des Instituts für Mehrsprachigkeit der Universität Freiburg förderte gravierende Defizite zutage. Am besten schneidet Hörverstehen ab. In diesem Bereich erreichen 57 Prozent der Sechstklässler die Lernziele, beim Leseverstehen sind es knapp 33 Prozent und beim Sprechen, dem wohl wichtigsten Bereich einer Fremdsprache, nicht einmal 11 Prozent. [1] Das Fazit der Studie: Ein beachtlicher Teil der Schülerinnen und Schüler kommt nicht einmal auf ein „elementares Niveau“.
Warum nicht die Strategie ändern?
Die Resultate lagen seit Mai 2019 vor. Sie wurden aber nie publiziert. Die Bildungsbehörden wollten die deprimierenden Ergebnisse verschweigen. [2] Stattdessen liess die grüne Berner Erziehungsdirektorin Christine Häsler zur gleichen Zeit verlauten, man befände sich beim Frühfranzösisch auf dem richtigen Weg. Auf die Kritiken an „Mille feuilles“ und die ernüchternde Evaluation angesprochen, meinte sie nun: „Das ist keine Überraschung. Die Probleme sind erkannt und das neue Lehrmittel wird laufend verbessert.“ [3]
Die Verantwortlichen optimieren im Operativen, reagieren auf Lehrmittelebene. Warum überdenken sie nicht die Strategie? Ist das „Sprachbad“ allein zielführend? Und warum denken sie nicht auch an jene Schülerinnen und Schüler, die einen analytischen Sprachzugang haben? Doch davon spricht niemand.
Warum wartet man so lange?
Es ist sinnlos, im Strukturellen zu schrauben und zu bohren, wenn die Strategie nicht stimmt, wenn der Fehler im Prinzipiellen liegt. Klaffen Bildungsidee und Wirklichkeit auseinander, leidet nur die Wirklichkeit. Und das sind die Kinder und Jugendlichen – und mit ihnen die Lehrerinnen und Lehrer und auch die Eltern.
„Wir haben jetzt eine Generation Schüler, die schlicht keine Sprachkompetenz in Französisch hat“, schreibt ein Vater und fragt vorwurfvoll: „Wieso hat man nur so lange zugschaut und keine notwendigen Massnahmen ergriffen?“ Das fragen sich in der Zwischenzeit viele.
Totalschaden abwenden – Freiheit geben
Im Kanton Baselland hat das Stimmvolk Ende November mit 84,8 Prozent Ja eine Initiative angenommen: Sie lockert die Lehrmittelpflicht. Damit muss an den Baselbieter Schulen nicht mehr zwingend nach dem umstrittenen interkantonalen Fremdsprachenkonzept „Passepartout“ unterrichtet werden. Das Lehrmittel-Obligatorium fällt. Die Verantwortung geht damit ein spürbares Stück zurück an die einzelne Lehrperson. Sie muss wissen, was sie will und wie sie es mit ihren Kindern erreicht. Das Prinzipielle und das Operative wirksam verbinden und die Ziele erfüllen, dafür zeichnen Lehrerinnen und Lehrer verantwortlich. Dazu brauchen sie methodische Freiheit – allerdings im Rahmen vom Prinzipiellen.
Genau das fordert der „Bund“-Redaktor Christoph Aebischer, wenn er schreibt: „Dem Kanton Bern läuft beim Französisch-Lehrmittel „Mille feuilles“ die Zeit davon, um einen Totalschaden abzuwenden. Es ist Zeit, den Lehrerinnen und Lehrern mehr Freiheit zu geben.“ [4]
—
Quelle: Journal21.ch
[1] Eva Wiederkeller, Peter Lenz (2019), Kurzbericht zum Projekt ,Ergebnisbezogene Evaluation des Französischunterrichts in der 6. Klasse (HarmoS 8) in den sechs Passepartout-Kantonen’, durchgeführt von Juni 2015 bis März 2019 am Institut für Mehrsprachigkeit der Universität und der Pädagogischen Hochschule Freiburg im Auftrag der Passepartout-Kantone. Freiburg.
[2] Stefan von Bergen, Die geheime Frühfranzösisch-Studie, in: Berner Zeitung, 27.09.2019, S. 3.
[3] https://www.srf.ch/news/regional/bern-freiburg-wallis/mille-feuilles-in-der-kritik-schlechte-noten-fuer-das-fruehfranzoesisch
[4] Christoph Aebischer, Probezeit für „Mille feuilles“ ist abgelaufen, in: Der Bund, 26.11.2019.