Welche Möglichkeiten des Umgangs mit dem Islam stehen dem säkularen Rechtstaat offen, ohne mit seinem liberalen Selbstverständnis in Widerspruch zu geraten? Was besagt das berühmte Böckenförde-Diktum für die Einwanderungs- und Islam-Debatte?
Von Dominik Lusser
„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Mit diesem inzwischen berühmt gewordenen Satz aus dem Jahre 1964 hat der Rechtsphilosoph Ernst-Wolfgang Böckenförde gewissermassen die metaphysische Architektur der modernen westlichen Demokratie auf den Punkt gebracht. Weniger bekannt hingegen sind die Islam-Skepsis sowie die daraus folgenden migrationspolitischen Empfehlungen des im Februar 2019 verstorbenen ehemaligen Bundesverfassungsrichters. Martin Rhonheimer hat Böckenfördes bemerkenswerte Überlegungen zu Islam und Migration am 20. August 2019 in der NZZ vorgestellt.
Was der liberale Staat laut Böckenförde von seinen Bürgern verlangt, ist Loyalität zur säkularen Rechtsordnung. Gefordert wird nicht eine bestimmte Gesinnung und die innere Zustimmung zu Werten, wohl aber die Befolgung der geltenden Gesetze. Was aber wäre, so fragte der Rechtsphilosoph 2007 in einem Vortrag, wenn vorauszusehen wäre, dass eine Religion, „sofern sich politische Möglichkeiten (…) dazu bieten“, sich gegenüber der Religionsfreiheit „auf Dauer aktiv resistent verhält, sie also abzubauen suchte“? In einem solchen Fall hätte, so Böckenförde, „der Staat dafür Sorge zu tragen, dass diese Religion beziehungsweise ihre Anhänger in einer Minderheitenposition verbleiben.“ Und dies würde gegebenenfalls entsprechende politische Gestaltungen im Bereich von Freizügigkeit, Migration und Einbürgerung notwendig machen.
Als Böckenförde 1964 seinen berühmten Satz von den Voraussetzungen des freiheitlichen Staates niederschrieb, war der Islam noch kaum ein Thema. Doch sei, wie Rhonheimer ausführt, Böckenförde schliesslich 2009 in der Rezension einer Doktorarbeit zum Schluss gekommen, der Islam sei aus inneren, theologischen Gründen nicht fähig, den säkularen Staat „in seinem Freiheitsgehalt“ zu akzeptieren. Denn für den Islam bleibe „Bewahrung beziehungsweise Verwirklichung der göttlichen Ordnung (…) die grundsätzliche Aufgabe des Staates“.
Legitime Selbstverteidigung
Nichtsdestotrotz hält Böckenförde an der liberalen Haltung fest, bei uns lebende Muslime müssten „ungeachtet ihrer bestehenden Vorbehalte gegenüber Säkularisierung und Religionsfreiheit ungeschmälert der Rechte teilhaftig werden, die unsere freiheitliche Ordnung gewährleistet“. Allerdings müsse der Staat „durch geeignete Massnahmen im Bereich von Freizügigkeit und Migration“ dafür Sorge tragen, dass die Muslime „in ihrer Minderheitenposition verbleiben, ihnen mithin der Weg verlegt ist, über die Ausnutzung demokratischer politischer Möglichkeiten seine auf Offenheit angelegte Ordnung von innen her aufzurollen“. Dies sei, so Böckenförde, nicht mehr als „Selbstverteidigung, die der freiheitliche Verfassungsstaat sich schuldig ist“.
Diese Selbstverteidigung widerspricht auch nicht dem Grundgedanken westlicher Demokratien, die nicht allein nach dem Mehrheitsprinzip funktionieren. Vielmehr seien diese, wie Rhonheimer erklärt, „wesentlich Rechtsstaaten, die auf der verfassungsmässigen Garantie individueller Freiheitsrechte beruhen.“ Sie gründeten auf der Überzeugung, dass allen Individuen – egal welcher Weltanschauung – die gleiche menschliche Natur und entsprechende Würde zukomme. Doch genau diese Überzeugung, die wesentlich christlichen Ursprungs und die Prämisse eines säkular-liberalen Staatsverständnisses sei, werde von den – global betrachtet – relevanten Spielarten des Islam abgelehnt. „Für den Islam ist der Mensch von Natur aus Muslim, als solcher wurde jeder Mensch von Allah erschaffen.“ Nichtmuslime hingegen seien nach dieser Ansicht „pervertierte“ Menschen, durch ihre Umwelt dem naturgegebenen Menschsein entfremdete Abtrünnige.
Insofern sich die Kultur, die den säkularen Staat trägt, aus nicht beliebigen religiösen Wurzeln geformt hat, stellte Böckenförde 2007 die Frage, ob der säkulare Staat seine Säkularität auch dann noch bewahren könne, wenn „der kulturelle Sockel, auf dem er aufruht, (…) seine verbindende Kraft einbüsst“. Die negative Antwort auf diese Frage lässt sich aus dem Böckenförde-Diktum ableiten. Doch welche Möglichkeiten hat dann der liberale Staat überhaupt, eine solche Entwicklung abzuwenden? Oder ist er jedem gesellschaftlichen Wertewandel auf Gedeih und Verderben ausgeliefert? Will der Staat mit seinem liberalen Selbstverständnis nicht in Widerspruch geraten, bleibt ihm – so Rhonheimer im Anschluss an Böckenförde – lediglich, zu „verhindern, dass eine religiös-kulturelle Kraft, die zu seinem ‚kulturellen Sockel‘ geradezu eine Antithese bildet, im Staat zu einer Mehrheitsposition gelangt.“ Die „liberale Lösung“ dieser Herausforderung besteht laut Rhonheimer nicht darin, „die Grenzen für Muslime dichtzumachen.“ Wohl aber verlange sie Besinnung auf die Grundlagen unserer freiheitlichen Kultur und eine entsprechend klar definierte Einwanderungspolitik. „Schliesslich ist sie ein Integrationsangebot an unsere muslimischen Mitbürger und die Einladung, Denken und Gesinnung vom Reiz der Freiheit anstecken zu lassen.“
Der Reiz des Illiberalen
Ob dem Problem Islam durch Integrationsbemühungen und eine „klar definierte Einwanderungspolitik“ – ein vager Begriff – beizukommen ist, wird sich weisen müssen. Zweifel sind angebracht. Denn Migranten aus muslimisch geprägten Kulturen lassen sich nicht nur vom Reiz der Freiheit anstecken. Nicht wenige sind, gerade auch in der zweiten oder dritten Generation, ebenso empfänglich für eine starke Identifikation mit dem Islam und innerislamischen Radikalisierungstendenzen. Weder die aus dem Ausland betriebene islamische Propaganda, noch der mit der Zahl eingewanderter Muslime steigende Druck der Umma (der Glaubensgemeinschaft der Muslime) sind diesbezüglich zu unterschätzen. Nicht vergessen werden darf auch, dass die Frage, welches Risiko muslimische Einwanderer mit sich bringen, von politischen und kulturellen Entwicklungen in der islamischen Welt abhängen, denen westliche Länder grösstenteils nur als Zuschauer gegenüberstehen. Und mit welchen Methoden wollte man denn wirksam prüfen, ob ein muslimischer Immigrant für unser Land verträglich, und nicht vielmehr ein Trojaner in unserem Rechtsystem ist bzw. im Verlaufe der Zeit dazu wird?
Zu denken geben auch aktuelle Statistiken: Laut einer Umfrage der Züricher Hochschule für angewandte Wissenschaften aus dem Jahre 2018 sind 43 Prozent der muslimischen Jugendlichen in der Schweiz abwertend gegenüber westlichen Gesellschaften eingestellt. 21 Prozent sind für die Einführung eines Gottesstaates und der Scharia in der Schweiz. 28,8 Prozent sind feindlich gegenüber nicht-traditionellen Muslimen eingestellt und 5,9 Prozent sind für die Anwendung physischer Gewalt gegen Andersgläubige. Solche Ansichten werden politisch nicht erst dann relevant, wenn sie auf kommunaler, kantonaler oder nationaler Ebene mehrheitsfähig geworden sind. Wie die Beispiele von Scharia-Zonen in europäischen Metropolen zeigen, bilden muslimische Einwanderer vielerorts Parallelgesellschaften und schaffen so in Umgehung demokratischer Wege eigene politische und rechtliche Strukturen, die nicht der Freiheit verpflichtet sind.
Die andere Bedrohung
Allerdings wäre es blauäugig, die Bedrohung des säkular-liberalen Rechtstaates nur im Islam zu suchen. Wir können aufgrund der neueren politischen Entwicklungen in Europa nicht mehr so tun, als wäre die Freiheit nur durch Kräfte bedroht, die von aussen zuwandern. Was wäre, wenn der gefährlichste Angriff auf den liberalen Rechtsstaat gar nicht durch den importierten Islam, sondern von innen her käme? Wenn sich unsere zunehmend säkularisierte nichtmuslimische Bevölkerungsmehrheit vom kulturellen Sockel, auf denen der freiheitliche Staat fusst, selbst entfremdet, könnte jegliche Kontrolle der Zuwanderung obsolet werden. Sich häufende antiliberale Bestrebungen, die darauf zielen, Grundrechte wie die Meinungsäusserungs-, Gewissens-, Gewerbe- oder Religionsfreiheit zu beschneiden, zeigen die Gefahr, dass die Abschaffung der Freiheit auch von innen her – nicht durch einen islamischen Gottesstaat, sondern durch einen radikal säkularen Totalitarismus – Realität werden könnte. Sollten die demokratischen Mehrheitsverhältnisse tatsächlich in diese Richtung kippen, gäbe es dagegen erstrecht keinerlei Abwehrstrategie.
Es zeigt sich, dass das Gelingen des freien Zusammenlebens im Staat letzten Endes nicht nur eine Frage des Systems und politischer Mechanismen ist, sondern der Gesinnung. Einer inneren Haltung, die der freiheitliche Staat per definitionem nicht vorschreiben darf. Hierin liegt die Fragilität jeder liberalen Rechtsordnung. Tragen wir darum Sorge zu ihr.