Gemäss den angepassten Empfehlungen des Bundesamtes für Gesundheit vom 11. Mai 2020 sollen Besuche in Alters- und Pflegeheimen grundsätzlich wieder möglich sein. Die Ethikerin Ruth Baumann-Hölzle, Institutsleiterin von „Dialog Ethik“, hofft, dass entsprechende Lockerungen in den Institutionen bald umgesetzt werden. Es zeige sich nämlich, dass gerade die vulnerablen Bevölkerungsgruppen, zu deren Wohlergehen man die Notstandmassnahmen ergriffen habe, darunter am meisten litten.
Obwohl man mittlerweile wisse, dass COVID-19 mit Ebola nicht vergleichbar sei und die Worstcase-Szenarien auch in den von der Corona-Epidemie am meisten betroffenen Gegenden nicht eingetreten seien, gäbe es Orte mit einer grossen Übersterblichkeit, für die man noch keine schlüssigen Erklärungen, sondern „nur Vermutungen“ habe. Dies schreibt Baumann-Hölzle in ihrem aktuellen „Kommentar zur Zeit“ vom 13. Mai.
„Eindeutig ist, dass Menschen mit Vorerkrankungen und/oder alte Menschen das höchste Risiko haben, bei einer Infektion mit dem Coronavirus schwer zu erkranken“, konstatiert die promovierte Theologin und Expertin für Ethik im Gesundheitswesen. Bis zu 60 Prozent der Todesfälle im Zusammenhang mit COVID-19 hätten sich in Alters- und Pflegeheimen ereignet, auch in der Schweiz. Dies werfe die Frage nach den Ursachen auf: War nicht genug Schutzmaterial vorhanden? Fehlte es an ausgebildetem Personal? Sind die Bewohner vor Angst oder aus Einsamkeit gestorben?
„Die vulnerablen Menschen, die Pflegebedürftigen in den Heimen und zu Hause sind es auch, die unter der Beschneidung der Grundrechte und der Lebensqualität infolge der politischen Massnahmen am meisten zu leiden haben“, gibt Baumann-Hölzle zu bedenken. Diese würden zwar körperlich versorgt, ihre menschlichen Bedürfnisse nach Zuwendung und Nähe kämen aber zu kurz. Heimbewohner lebten völlig von der Aussenwelt abgeschottet, fern von ihren Liebsten und alleingelassen mit ihren Ängsten. Von dieser Situation seien auch die Angehörigen betroffen, die sich nicht mehr um sie kümmern könnten, konstatiert die Ethikerin.
Dass die Heimleitungen mit Begegnungszimmern versuchen würden, der Not entgegenzuwirken, vermöge zwar vielleicht die negativen Auswirkungen etwas zu lindern, bei dementen Menschen aber könne dadurch der Leidensdruck gar noch verstärkt werden, schreibt Baumann-Hölzle. Ferner ist laut der Expertin zu bedenken: „Das Pflegepersonal in den Heimen, ohnehin schon meist knapp dotiert und schlecht bezahlt, wird dadurch, dass die Unterstützung durch Angehörige bei der Betreuung und Pflege wegfällt, noch mehr belastet.“ Aus den Heimen entstünden so auch geschlossene Organisationen, da die Kontrollmöglichkeit durch auswärtige Besucher nicht mehr bestünde. Die Gefahr des Machtmissbrauchs sei damit gewachsen. Baumann-Hölzle schlussfolgert aus all dem: „Die Notstandsmassnahmen zeitigen in den Pflegeheimen also paradoxe Auswirkungen: Gerade die Bevölkerungsgruppe, zu deren Wohlergehen sie vor allem ergriffen wurden, leidet derzeit am meisten darunter und verzeichnet auch die höchste Mortalität.“
Angesichts dessen, dass wir einerseits vom befürchteten Worstcase-Szenario im Gesundheitswesen mittlerweile weit entfernt seien, andererseits in den Pflegeheimen die Viruserkrankung auch durch strengste Sicherheitsvorkehrungen offensichtlich nicht verhindert werden könne und auch das Gesundheitswesen in der Schweiz nicht überlastet sei, stelle sich die Frage, inwiefern sich die Notstandsmassnahmen in den Pflegeheimen noch rechtfertigen liessen. Angesichts dieser Lager erinnert Baumann-Hölzle an einen „Grundpfeiler freiheitlichdemokratischer Staaten“, wonach allen das Recht zu einer eigenen Risikoabwägung zustehe: „Urteilsfähige pflegebedürftige Menschen in Heimen und zu Hause (…) müssen zusammen mit den Angehörigen die Freiheit haben, selber darüber zu entscheiden, welchem Risiko sie sich aussetzen und welche Schutzmassnahmen sie beanspruchen wollen.“ Den Gründen für die grosse Mortalität in den Pflegeheimen sei aber in jedem Fall nachzugehen, fordert Baumann-Hölzle.