Man muss nur alt genug werden, um sich zu erinnern, wie die Umgangsformen zwischen Eltern und Kindern mit dem gesellschaftlichen Trend im Zeitgeist wechseln. Heute scheint die Sehnsucht nach einem neuen Knigge aufzukommen.
Von Christa Meves
Als ich Kind war, zwischen 1925 und 1932, gab es in den bürgerlichen Elternhäusern ein zwar schon weitgehend gelockertes, aber immer noch klar vorhandenes Gefälle in der familiären Hierarchie. So war es ganz selbstverständlich, dass dem Vater von allen Familienmitgliedern eine besondere Achtung zuteilwurde. Sein Heimkommen wurde täglich vorbereitet und alle waren darauf eingestellt, dass er einen guten Empfang hatte. Mutter bereitete Essen vor, das ihm schmeckte, es gab eine feststehende Tischordnung mit einem Sitzplatz für den Vater am Kopf des Esstisches, und wenn Mutter mit einem Gong zu Tisch rief, stand jedes der Kinder sofort auf, wo und wie es sich beschäftigte, und nahm pünktlich den ihm zugehörigen Platz ein, gefaltete Hände dann selbstverständlich; denn nun folgte – unter Vaters Regie – zunächst einmal ein kurzes Tischgebet.
Diese Szenerie gab es in den Familien nach dem ersten Weltkrieg – nun eher neu – nicht mehr wie im Jahrhundert davor mit erzwungener Befehlsgewalt, sondern in gelockerter Form. Im Hintergrund stand offenbar das Wollen, einen emanzipatorischen Aufbruch im Zeitgeist zu realisieren, der im Paulinischen Sinne ein ausgeglichenes Familienklima ermöglichte. Zwar lebte man in den bürgerlichen Familien in der Generation zwischen den beiden Weltkriegen als Eltern die alten, kultivierten Umgangsformen weiter vor, liess aber gleichzeitig den Kindern mehr Spielraum. Das förderte eine Art freiwilligen Gehorsam, den die Eltern mit Liebe und Vernunft vorlebten. Da war es ganz selbstverständlich, dass die Mutter als eine Person behandelt wurde, die ein anständiges Verhalten der Kinder erwarten konnte, weil der Vater ihnen das im Umgang mit seiner Frau vorlebte! Hinterher wurde mir klar, dass diese so allgemein gehaltene bürgerliche Familienwelt einer gegenseitigen Achtung der Eheleute füreinander zu verdanken war. Allerdings gehörte gewiss auch ihr erziehendes Kopfschütteln dazu, wenn eines der Kinder aus diesem Rahmen heraussprang und durch flegelhaftes Benehmen Anstoss erregte. Das wurde als „unmöglich“ unterbunden.
Aufstand gegen die Eltern
Aber nun: Nach all den Jahren mit Not und Tod zwischen 1939 und 1949 erhielt die Familie im Wirtschaftswunderland zunächst einen Neuaufbau. Aber bald erlebte die dort meist weiter praktizierte natürliche Hierarchie in Familie und Gesellschaft einen mächtigen Stoss: Junge Revolutionäre liefen lärmend durch die Gassen und wussten zu behaupten, dass die Familie grundsätzlich nichts tauge und abzuschaffen sei und dass man, solange das noch nicht erreicht sei, den Kindern die bisher vorenthaltene Selbstbestimmung zu gewähren habe, indem sie täglich zumindest daheim den Aufstand gegen die Eltern zu proben hätten. Von da ab wurden merkwürdigerweise breitflächig ruppige Umgangsweisen in der Familie und auch als neuer Lebensstil in Schule und Gesellschaft möglich. Die nichtswürdigen Eltern hatten sich still zu verhalten, damit die Kinder „antiautoritär“ die ihnen zustehenden Freiheiten in allen Phasen ihrer Unmündigkeit in überheblicher Anmassung einzufordern hätten. Ich erinnere, dass in einer Familie eine schnippische Tochter ihre Mutter ungerügt mit dem Ausdruck „blöde Sau“ benennen konnte.
Als Folge kam es nun aber zu einem Boom von seelischen Verwahrlosungen der Kinder aus dem bürgerlichen Mittelstand. Immer mehr Eltern gerieten in verdüsterte Ratlosigkeit über die unsäglichen Frechheiten, Rücksichtslosigkeiten und der schnöden Undankbarkeit ihrer Sprösslinge. Diese traurige Phase hatte erst in jüngster Zeit noch ihren Höhepunkt und fand sogar eine Symbolfigur in der 15-jährigen Greta aus Schweden, die in einem voll besetzten Saal mit Regierenden und hochrangigen Eltern diese schlimm beschimpfte. Ist die natürliche Hierarchie nun vollständig out? Jedenfalls hat das Kind in manchen Familien Vaters Kopfplatz eingenommen – und das nicht erst heute. Seit den 70er Jahren wurde es für den Vater in manchen Familien bereits problematisch, sich am Feierabend ein wenig gehen zu lassen, sich z. B. unnachdenklich auf dem Kopf zu kratzen oder zu rülpsen. Immer häufiger erhob dann eines seiner sieben- bis zwölfjährigen Kinder seinen Finger, um zu tönen: „Lass das, Heinz“ (und damit war dann der Vater gemeint!). Diese Phase scheinberechtigter Anmassung währt hierzulande nun immerhin schon seit 50 Jahren! Kultivierte Umgangsformen miteinander schienen immer mehr in Vergessenheit zu geraten. Selbst eigene Rechte einzufordern – das bestimmte vorrangig den Verhaltensstil.
In jüngster Zeit wurden noch wieder im Parlament – zwecks Auflösung der Elternrechte – Forderungen einer Grundgesetzveränderung im Sinne einer Gesetzlichkeit eigenständiger Kinderrechte erhoben – aber nun das Erstaunliche: Nun in der Coronazeit gibt es plötzlich vernünftige Stimmen von Vätern und Grossvätern aus den Familien, die – der Unverschämtheiten ihrer Sprösslinge müde – ihre viele Anwesenheit in ihren Familien nutzen. Sie fordern von ihren Kindern anständige Umgangsform miteinander ein, besonders mit ihnen als Eltern!
Sehnsucht nach kultivierten Umgangsformen
Wie kommt dieses Aufkeimen einer natürlichen Vernunft bei manchen Vätern zustande? Hier gibt es einen interessanten Zusammenhang: In der Bevölkerung wird es allmählich bekannt, dass die allgemeine Abschaffung einer gesunden Familienstruktur wenig erfolgreich gewesen ist; denn als Folge hat sich herausgestellt, dass sich hierzulande das Schülerpotenzial im internationalen Vergleich jetzt auf Abrutsch in eine untere Klasse der Mittelmässigkeit befindet. Denn die lässige Übertreibung von Respektlosigkeiten auch gegen supertolerante Lehrer hat diesen allgemeinen Leistungsverfall der Schüler mitbewirkt. Aber in der modernen Familie herrscht mehr oder weniger bewusst eine Zielvorgabe: Abitur ist anzustreben, als Plattform zu mehr Lebenserfolg! Und das unterstützt das Bemühen der Eltern, aus der Falle einer pervertierten Kinderherrschaft in der Familie, aus der Missachtung und den Herabsetzungen von Eltern durch die Kinder herauszufinden. Denn es dämmert die Erkenntnis, dass jegliches erfolgreiche Leistungsniveau voraussetzt, dass den Kleinen die Chance vermittelt wird, von vertrauenswürdigen, erfahrenen, liebevollen Grossen – diese nachahmend – lernen zu wollen. Das nämlich ist vorrangig das entscheidende Postulat jeder erfolgreichen Pädagogik.
Durch diese Hintertür scheint deshalb sogar ein gesunder Trend zur Beachtung von kultivierten Umgangsweisen, ja, so etwas wie eine Sehnsucht nach einem neuen Knigge aufzukommen – nach einer Renaissance von Worten, die volle 50 Jahre lang fast ausgestorben waren, Worte wie Höflichkeit, Respekt, Hochachtung, Opfer, vor allem aber auch Worte wie Rücksicht und Würde. Bei manchen Kindern findet man solche Worte neu in ihrem Vokabular, weil sie sie – hört nur hört! – von ihren Eltern, diese nachahmend, abgelauscht haben! Und sie befreunden sich mit Mitschülern, bei denen es diese Worte nicht nur gibt, sondern bei denen der Stil ihres Elternhauses davon durchwirkt ist. Selbst Corona scheint hier einige Breschen geschlagen zu haben. Der alte Wilhelm Busch wird neu zitierbar: „Denn wer nicht höflich nach allen Seiten, hat doch nur lauter Verdriesslichkeiten.“