Hat die Aufklärung das Christentum schlicht abgelöst? Oder hat sie unter Abscheidung des metaphysischen Kerns des Christentums dessen „Werte“ usurpiert, die sie nun immer weniger zu bewahren und weiterzugeben vermag?
Von Martin Grichting
Während des Corona-Lockdown hat der Staat das Christentum, das dieses Land mitbegründete und während Jahrhunderten prägte, unter die nicht systemrelevanten Bereiche des gesellschaftlichen Lebens subsumiert. Die Partei, die das K und später das C zur Grundlage ihrer Politik erklärt hat (die CVP), erkennt im Christentum mittlerweile nur noch einen Hemmschuh bei der Gewinnung von Marktanteilen. Das Christentum wird in der staatlichen Schule unter dem Titel „Religionskunde“ als gleich gültig neben andere Religionen gestellt und damit im Ergebnis für gleichgültig erklärt. Die Beispiele liessen sich vermehren. Sie vermitteln den Eindruck, dass die christliche Religion ihre Schuldigkeit getan hat und gehen kann.
Unveräusserliche Würde
Ob der christliche Glaube für eine Gesellschaft von Freien und Gleichen wirklich entbehrlich ist, wird sich jetzt zeigen. Ist der Mensch ein von Natur freies Wesen? Hat er unbestrittenermassen eine unveräusserliche Würde? Bewahrt ihn eine nicht entziehbare Freiheit des Gewissens unfehlbar davor, diesseitige Gottheiten völkischer, despotischer oder technokratischer Natur anbeten zu müssen? Eine gängige Weltdeutung scheint es zu glauben. Zweifel sind aber angebracht. So werden heute Denkmäler von Sklavenhändlern gestürzt. Deren Verhalten war verwerflich. Ungeschehen machen kann man es freilich nicht, nur lernen könnte man daraus. Gerade das tun die zeitgenössischen Ikonoklasten jedoch nicht. Sonst würden sie gegen die Sklaverei 2.0, die Leihmutterschaft, rebellieren. Gegenstand eines Leihmuttervertrages ist ja nichts anderes als die Lieferung eines Kindes gegen die Bezahlung einer vereinbarten Summe.
In aufgeklärten Gesellschaften hat damit zum ersten Mal ein Mensch einen Preis. Die Würde des Menschen, Mann einer Frau bzw. Frau eines Mannes zu sein und in diesem natürlichen Rahmen eigenen Kindern das Leben zu schenken, wird heute auch durch die Samenspende und die Leihmutterschaft unterminiert. Denn diese Praktiken sind anfanghaft polygam bzw. polyandrisch. Nach der Verabschiedung des Christentums wird die „Ehe für alle“ in solch menschenunwürdige Konstellationen münden. Bei Muslimen wird Polygamie bereits heute von westlichen Staaten toleriert.
Was derzeit abläuft, hat der Theologe Romano Guardini, noch unter dem Eindruck des „Dritten Reichs“, beschrieben. Er vertrat die These, die unveräusserliche Personenwürde, die individuelle Freiheit oder die Grundrechte der Person seien zwar an sich natürlich, mit dem Menschsein gegebene Werte. Sie könnten aber erst unter dem Einfluss des Christentums, das den Menschen als Geschöpf Gottes achtet, wirkkräftig werden. Es sei deshalb die Unredlichkeit der Neuzeit gewesen, sich die ethisch und politisch bedeutsamen Früchte des Christentums anzueignen, jedoch deren Garanten, den christlichen Glauben, wegzutun. Und er prophezeite, dass diese „Nutzniessungen“ aufhören würden. Denn die Bejahung und die Pflege von Werten, die dem christlichen Glauben entliehen seien, überdauerten nur eine Weile dessen Verlöschen und gingen dann allmählich verloren.
Die Wut auf das Unzerstörte
Angesichts der derzeitigen Distanzierung zahlloser Individuen und ganzer Gesellschaften vom christlichen Glauben, wie sie exemplarisch im Zwingli-Kanton Zürich deutlich wird, wo Reformierte und Katholiken nächstes Jahr zusammengezählt unter die 50-Prozent-Marke fallen werden, wird sich noch einmal die Frage stellen, was Aufklärung bedeutet: Hat sie das Christentum schlicht abgelöst? Ist sie bloss eine neue Erscheinungsform einer wandlungsfähigen Religion gewesen? Oder hat die Aufklärung eben im Ergebnis unter Abscheidung des metaphysischen Kerns des Christentums dessen „Werte“ usurpiert, die sie nun immer weniger zu bewahren und weiterzugeben vermag?
Die Frage ist zu vielschichtig, um kurz und eindeutig beantwortet werden zu können. Klar ist jedenfalls, dass bedeutende Denker, die am Anfang der Aufklärung standen, die christliche Religion weder als Gegensatz zu diesem zu leistenden Werk noch als obsolet betrachtet haben. Zu erinnern ist etwa an Montesquieu, der im „Geist der Gesetze“ schrieb: „Wie bewundernswert: Die christliche Religion scheint nur unsere Glückseligkeit im jenseitigen Leben im Auge zu haben und verhilft uns doch auch in diesem zu unserem Glück.“
Und angesichts des zeitgenössischen Mobs, der keine weltanschaulichen Ziele mehr zu verfolgen scheint, sondern nur noch die Wut auf das Unzerstörte zelebriert, muss man Montesquieus Weitsicht bewundern: „Aus dem Gedanken der Nichtexistenz Gottes ergibt sich der Begriff unserer Unabhängigkeit oder, wenn dieser Gedanke uns nicht möglich ist, der Gedanke an Aufruhr.“
Erschien zuerst am 7. Juli 2020 in der NZZ.