Ein beliebiger Umgang mit der Sexualität ist mit einer dauerhaft gelungenen Liebesbeziehung nicht vereinbar. Vom Kontext hängt es ab, ob der andere als Person angenommen, oder nur benutzt wird.
Von Christian Spaemann
Diese Ausführungen sind mit freundlicher Genehmigung des Autors aus einem längeren Aufsatz entnommen, den er 2016 in der Reihe „Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte“ bei Duncker und Humblot, Berlin, zum Thema „Hintergrund und gesellschaftliche Auswirkungen einer schulischen Sexualpädagogik der Vielfalt“ veröffentlicht hat.
Wenn sich ein in die Jahre gekommenes Ehepaar liebevoll in die Augen schaut, ahnt der aufmerksame Beobachter das wortlose Einverständnis der Herzen, den einfachen Akt der wechselseitigen Annahme des anderen, der hier zum Ausdruck kommt. Ein über die Jahre gereiftes Glück, wie es Ovid in seinen Metamorphosen mit dem Paar „Philemon und Baucis“ beispielhaft beschrieben hat. Versuchen wir mit der Brille der Einzelwissenschaften hinter die Kulissen dieses Glücks zu schauen, treffen wir auf eine zunächst verwirrende Mannigfaltigkeit an transhistorisch und transkulturell nachweisbaren Determinanten aus dem Bereich der Evolutionsbiologie, der Psychologie der Geschlechtsunterschiede, der Bindungsforschung und der Entwicklungspsychologie. Bei näherem Hinsehen lässt sich dann ein generationenübergreifendes Gefüge erkennen, dessen Komplexität zur einfachen Struktur der Liebe offensichtlich nicht nur in keinem Wiederspruch steht, sondern das geglückte Zueinander von Mann und Frau erst zu ermöglichen scheint.
Ganz beliebig dürften die beiden Philemon und Baucis in ihrem Leben nicht mit ihrer Sexualität umgegangen sein. Auch das Verhältnis zu ihren Eltern war wohl nicht ohne Bedeutung für ihre Beziehung. Wenn wir die gegenwärtige Entwicklung in der Sexualpädagogik verstehen und kritisch reflektieren wollen, kommen wir nicht umhin, uns zunächst mit dem generationenübergreifenden Zusammenspiel der Geschlechter, d.h. mit der Natur menschlicher Sexualität auseinanderzusetzen. Denn Pädagogik hat mit Bildung zu tun und das gilt auch für die Sexualpädagogik. „Sich mitzuteilen ist Natur; Mitgeteiltes aufzunehmen, wie es gegeben wird, ist Bildung.“ Dieser Satz aus den „Maximen und Reflexionen“ von Goethe besagt, dass Bildung weniger die Anhäufung von Wissen bedeutet als vielmehr den Gegenstand, um den es geht, zu verstehen und seinen Gehalt zu erfassen. Erst dann können wir erahnen, was es bedeutet, auf den verschiedenen Ebenen pädagogischen Wirkens die geschlechtliche Entwicklung der Kinder und Jugendlichen zu begleiten.
Die Dualität von Mann und Frau
Menschliche Sexualität hat ihren Ursprung in der Evolution tierischen Lebens. Sie ist verankert in der fruchtbaren, binären, männlich-weiblichen Geschlechterordnung. Ohne sie gäbe es uns gar nicht. Die sich ergänzende Verschiedenheit von Mann und Frau, insbesondere ihre Sexualität ist durch die Evolution auf vielfältige Weise determiniert. Bei der Frage der menschlichen Sexualität geht es zunächst um ihren Kontext (1). Woher kommt die Dualität von Mann und Frau, von Vater und Mutter? Die Evolutionsbiologen versuchen uns darauf eine Antwort zu geben. Sie sprechen von der sog. „disruptiven Evolution“. Irgendwann kam es in der Entwicklung tierischen Lebens zu einem „Auseinanderreißen“ des Fortpflanzungsstrangs in zwei Parts (2). Denn der Selektionsvorteil beruht auf zwei Aspekten, dem der Vermehrung und dem der Wartung. Vermehrung bedeutet Kampf um die Zeugung möglichst vieler Nachkommen. Sie ist auf die Quantität ausgerichtet. Wartung bedeutet Versorgung und Aufzucht, damit das, was vermehrt wurde, auch Qualität entwickelt, um überleben zu können. Beide, Quantität und Qualität, stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander, bedürfen der Arbeitsteilung und unterschiedlicher Eigenschaften (3). Diese aus der Evolution hervorgegangene Dualität im Tierreich bezeichnen wir als männlich und weiblich. Sie variiert zu einer bunten Vielfalt von Lebensformen, bei denen die Männchen in unterschiedlichem Ausmaß an der Brutpflege beteiligt sein können. Der Mensch als Mann und Frau, als Vater und Mutter ist durch diese Dualität in vielfältiger Weise determiniert. Es handelt sich um transkulturell und transhistorisch feststellbare, genetisch bedingte Verhaltensdispositionen und Begabungen, die weit in unsere Stammesgeschichte zurückweisen (4). Da sie mit unseren überkommenen Vorstellungen von Mann und Frau weitgehend übereinstimmen, wirken sie klischeehaft. In Wirklichkeit lassen diese Determinanten aber einen großen Spielraum für die kulturelle Ausgestaltung dieser Unterschiede. Daher kann das Wissen um die Geschlechtsunterschiede zwar vernünftiges Beurteilen und Handeln auf allen Ebenen der Gesellschaft anstoßen und Fehlentwicklungen entlarven, es lässt sich aber aus ihm nicht automatisch ein bestimmtes Sollen ableiten.
Der Mann ist durchschnittlich um ein Drittel größer und auch stärker als die Frau. Am gravierendsten sind die Unterschiede in Bezug auf die Nachkommenschaft. Eine Frau kann in ihrem Leben maximal 20 Kindern gebären, während ein Mann im Laufe seines Lebens weit über tausend Kinder zeugen kann. Die Frau ist so besehen bei der Zeugung die Empfangende, der Mann der Gebende. Die Frau findet es erregend, umworben zu werden, der Mann weniger. Er umwirbt und erobert lieber. Sie trifft eher die Auswahl (5). Die Position der Frau als der begehrten, die den Freiraum für die Wahl hat, spiegelt sich in ihrer spezifisch weiblichen sexuellen Reaktionsweise wider (6), Bei der Frau gibt es einen flexibleren Zusammenhang zwischen sexueller Erregung und sexueller Aktivität. Diese wird nämlich nicht wie beim Mann weitgehend von der Erregung determiniert. Für das Sich-Einlassen auf sexuelle Aktivität gibt es mehr erregungsunabhängige Faktoren als beim Mann. Sexuelle Erregung muss nicht in sexuelle Aktivität münden (7). Diese Tatsache könnte von erheblicher Bedeutung für eine geschlechtssensible Sexualpädagogik sein. Anknüpfend an das „Sprödigkeitsverhalten“ weiblicher Tiere schaut die Frau zunächst auf Qualität (8). Die Forschungen zeigen, dass sie gerne einen soliden, selbstbewussten Mann hat, der Versorgungsverhalten und materielle Sicherheit verheißt. Er darf ruhig etwas älter sein. Selbst die Karrierefrau hat solche Wünsche (9). Der Mann begehrt tendenziell eher Schönheit, Jugendlichkeit und sexuelle Treue. Das verspricht mehr Gesundheit und mehr Kinder, von denen er sicher sein kann, dass sie seine eigenen sind. Die Frau hingegen muss diese Sorgen nicht haben, sie weiß immer ob ein Kind ihr eigenes ist. Das Wechselspiel von Begehren und Begehrt-werden, von Werben und Umworben-werden kennt nie einen rein aktiven oder passiven Part, sondern stellt einen dialektischen Prozess dar. Es findet in zahlreichen Volkstänzen, Bräuchen und Ritualen der Menschheitskulturen seinen oft auch spirituellen Niederschlag.
Mutter und Vater
Die Mutter ist mit besonderer Feinfühligkeit gegenüber dem Säugling und Kleinkind ausgestattet (10). Ihre Art der Fürsorglichkeit zeigt sich durch mehr unmittelbare Zuwendung. Statistisch gesehen hat sie mehr Interesse und Freude an häuslicher Tätigkeit und eine größere Fähigkeit zur gleichzeitigen Aufmerksamkeit, was stammesgeschichtlich ihrer Rolle, die Kinder während ihrer Arbeit im Auge zu behalten, zu Gute kam und auch heute noch zu Gute kommen kann (11). Sie steht für das mehr weiche, haltende, versorgende und Zuflucht bietende Element in der Erziehung. Dazu passen ihre hohe Stimme und ihre weichen Körperformen.
Der Vater kann ein hohes Maß an weiblicher Form der Fürsorge entwickeln, wenn es die Situation erfordert (12). Ersetzen kann er die Mutter nicht. Er neigt mehr zu einer instrumentellen, organisatorischen Form der Fürsorglichkeit. In der Erziehung repräsentiert er mehr das Element der Herausforderung, der Ermutigung, des Mentorings und der Vermittlung zur Außenwelt (13). Die schmerzliche Abwesenheit des Vaters, sei es durch sein gänzliches Fehlen, sein mangelndes Engagement oder durch den fehlenden emotionalen Bezug des Kindes zu ihm, ist täglich Thema in meiner psychotherapeutischen Praxis und wirkt sich besonders auf die Söhne aus. Die Folgen dieses Mangels für das Leben des Einzelnen können tiefgreifend sein. Engagierte Mütter können diese Lücke nur abmildern, nicht ersetzen (14).
Spezifische Bedürfnisse gegenüber Vater und Mutter
Aus der Perspektive der Entwicklung Kinder und Jugendlicher lassen sich weitere geschlechtsspezifische Bedürfnisse gegenüber ihren Eltern ausmachen (15). Gegenüber der Tochter nimmt die Mutter eine identitätsstiftende Rolle ein. Es geht um die Selbstvergewisserung im eigenen Frausein, die sich sowohl atmosphärisch, als auch konkret in den Dingen des Alltags zeigt. Die Forschungen des Entwicklungspsychologen James Marcia haben gezeigt, dass im Gegensatz zum Mann viele Frauen über eine unmittelbare Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil zu einer starken, d.h. selbstbewussten Identität finden können (16). In der Beziehung zum Vater hingegen kann die Tochter, beginnend etwa mit Mitte des zweiten Lebensjahrs, die Vielfalt weiblicher Zärtlichkeit, ja das ganze erotische, nicht sexuelle Repertoire zwischen den Geschlechtern einüben und damit die Fähigkeit zu einer sicheren Beziehung zum anderen Geschlecht grundlegen. Häufig will sie als kleines Mädchen niemand anderen
heiraten als ihren Papa und spielt mit ihm Hochzeit. Die Aufgabe des Vaters besteht darin, der Tochter bis zu ihrer Pubertät Raum für dieses Spiel zur Verfügung zu stellen und so die Fähigkeit seiner Tochter zur spezifisch weiblichen Hingabe zu bestätigen und zu fördern. Das Einfließen von eigenen Begehrlichkeiten stellt einen schweren Vertrauensbruch dar. Aus Spiel wird plötzlich Irritation, Ernst und Schuldgefühl. Alles erscheint in einem düsteren Licht. Das Leben vieler Frauen wird von da an als getrübt, wenn nicht als zerstört empfunden.
Gegenüber dem Sohn zeigt sich in besonderer Weise die herausfordernde, zur Umwelt hin vermittelnde Rolle des Vaters. Er will den Vater bewundern, Rückendeckung und Ermutigung in der Auseinandersetzung mit der Umwelt und Verständnis für die eigenen Schwächen bekommen und mit ihm über Sexualität reden können. Der Vater soll ihm klare Grundsätze für das Leben vermitteln. James Marcia hat gezeigt, dass Männer für ihr Selbstwertgefühl mehr darauf angewiesen sind, sich eine Identität zu erarbeiten. Für den Sohn bedeutet dies, dass der Vater einerseits eine Orientierung für die Identitäts- und Rollensicherheit als Mann bietet, andererseits später, in der Pubertät, kritische Auseinandersetzung zur eigenen Identitätsfindung möglich macht (17).
Die Familie als Ganze bedeutet für Kinder Geborgenheit, Schutz, Heimat und Gemeinschaft. In den ersten drei Lebensjahren werden in ihr die Fähigkeit zu Vertrauen und Selbstkontrolle, die Motivation, Herausforderungen zu bewältigen und die emotionalen Grundlagen für intellektuelles Lernen herausgebildet (18). Folgen fehlender Liebe in der frühen Kindheit sind Anspannung, Unlust, Unsicherheit und entsagende Selbstverleugnung. Die einfach strukturierte Familie aus Mutter, Vaterbund Kindern ist, obwohl sie ein Ort tiefer Verletzungen und Quelle psychischer Störungen sein kann, ein Ort des Verständnisses und der Solidarität. Aus ihr gehen statistisch gesehen die seelisch gesündesten Menschen hervor, die die größte Wahrscheinlichkeit haben, selber wieder eine stabile Familie mit Kindern zu gründen (19). Es lässt sich festhalten, dass die Triade Vater, Mutter und Kind eine Kernformation in der Beziehungsstruktur des Kindes darstellt, deren Qualität und Stabilität von grundlegender Bedeutung für sein späteres Leben ist (20). Grundlage für diese Triade ist die Beziehung von Frau und Mann.
Im Wechselspiel zwischen dem Kind und vor allem seiner Mutter entwickelt sich der Mensch vom Du zum Ich oder, besser gesagt, vom Du, das das Kind selber für die Mutter ist, zum Ich. Das Kind lernt zunächst, vermittelt über die mütterliche Feinfühligkeit in der Kommunikation, seine Affekte wahrzunehmen (21). Diese Feinfühligkeit ist einerseits als spontane, meist unbewusst ausgeübte Fähigkeit angeboren, andererseits durch die Entwicklung der Mutter selbst in ihrer Zeit als Säugling und Kleinkind mehr oder weniger ausgebildet worden. Indem Affekte des Kindes von Seiten der Mutter durch zunächst Beruhigung, später Spiegelung und schließlich Begrenzung geführt und begleitet werden, wird dem Kind jener verlässliche Rahmen gegeben, der es ihm ermöglicht, seine Affekte nicht nur wahrzunehmen, sondern sie später auch bei sich zu behalten und ihnen zum angemessenen Zeitpunkt adäquaten Ausdruck zu geben. Solch eine gesunde emotionale Entwicklung bedeutet eine wesentliche Grundlage für die Differenzierung von Subjekt und Objekt.
Mit der Entwicklung der Emotionsregulation kommt es zur Entfaltung der mentalen Repräsentationen. So bildet sich im Laufe der ersten Lebensjahre eine Art kognitiv-emotionaler Raum, in dem für das heranwachsende Kind die Mitmenschen zunehmend Gestalt gewinnen. Die Voraussetzungen für spätere reife Beziehungen werden hier grundgelegt. Übermäßiger Stress in der Kindheit hingegen hemmt die Affektregulation und adäquate Repräsentation der Mitmenschen und kann z.B. zu paranoid-bedrohlich gefärbten Konzepten gegenüber sogar nahestehenden Personen führen, mit einer erheblichen Beeinträchtigung der Fähigkeit, sich auf vertrauensvolle Beziehungen einzulassen und diese auch aufrechtzuerhalten. Die Art und Weise, wie ein Kind in seinen ersten Lebensjahren an die Mutter gebunden war, ob es sich um eine sichere, unsichere, ambivalente oder chaotische Bindung gehandelt hat, wird auch von der Bindungserfahrung der Mutter in ihrer Kindheit beeinflusst und ist ein bedeutender Prädiktor dafür, wie der oder die Betreffende später mit Sexualität umgeht. In der frühen Kindheit sicher gebundene Menschen können sich später besser auf dauerhafte intime Beziehungen einlassen, während unsicher gebundene zu flüchtigen Sexualkontakten neigen (22).
Beziehungsfähig werden
Folgt man dem Modell des amerikanischen Entwicklungspsychologen Robert Kegan (23), so schließt sich, nach einer Phase interessengeleiteter Austauschbeziehungen in der Vorpubertät, im Laufe der Pubertät eine Phase an, in der der Jugendliche in der Lage ist, sich selbst zurückzustellen und Liebesbeziehungen einzugehen. Kennzeichnend für diese Phase ist, dass diese Liebesbeziehungen idealisiert und von Verschmelzungswünschen belegt werden. Das Gefühl der Hingabe und des Verliebt-Seins wird in dieser Zeit am intensivsten empfunden, und bildet so häufig den Anfang dauerhafter Bindungen. In den meisten Kulturen wird in dieser Phase bereits geheiratet. Reife Intimität, im Sinne einer Begegnung, bei der sich zwei Individuen gegenseitig annehmen und schenken, hat sich noch nicht entfaltet. Insofern haben diese Beziehungen etwas Anfängliches, eine Art Vorausverbindlichkeit, die den Nährboden sucht, auf dem Subjekt und Objekt zunehmend Gestalt gewinnen können, ohne auseinanderzubrechen. Für die Sexualpädagogik ist dies bedeutsam, da dieses Stadium zeigt, wie sehr junge Menschen Leitbilder brauchen. Denn erst vom Ziel her wird das Anfängliche verständlich. Wenn kein Bewusstsein für das große Ganze besteht, in das man mit seinen subjektiven Gefühlen hineinwächst, wird es viel schwerer fallen, angesichts der unvermeidlichen Schwierigkeiten, die auf ein Paar zukommen, den Lebensentwurf zu realisieren und zu der Objektivität in der Annahme des anderen zu gelangen, in der das Glück der reifen Liebe zur Entfaltung kommen kann (24).
Abgelöst wird die beschriebene Phase der Verschmelzung von einem Stadium, in dem sich das Individuum nicht mehr als Teil einer Beziehung versteht (25). Die Beziehung bestimmt nicht mehr so stark seine Selbstdefinition. Der Betreffende ist nun mehr in der Lage, die Beziehung als solche anzuschauen. Die Organisationsstruktur des Selbst in seinen Beziehungen tritt in den Vordergrund. Es ist die Phase des Lebens nach vorgegebenen Regeln, der Verantwortung in Beruf und Familie und des Engagements in der Gesellschaft. In dieser Phase gelingt es mehr und mehr, den Anderen als Anderen mit seinen eigenen Emotionen, Gedanken und Verhaltensweisen wahrzunehmen. Subjekt und Objekt gewinnen in der Beziehung an Gestalt. Einerseits sind hier die Voraussetzungen für Selbsttranszendenz, für Intimität und Hingabe in neuer Weise gegeben, andererseits sind diese aber noch ganz eingebunden in vorgegebene Strukturen, mit denen sich der Einzelne identifiziert. Insofern kann man gegenüber der vorangegangenen Phase der Verschmelzung von einer gewissen Distanzierung in der Beziehung zwischen den Partnern sprechen, die sich vor allem in der praktischen Verwirklichung des gemeinsamen Lebens realisiert.
In der folgenden, von Kegan als „überindividuell“ bezeichneten Phase, kommt die Selbsttranszendenz zu ihrer vollen Entfaltung. Die Liebe wird reif. Der Mensch ist im Stande, Regeln und Normen als Ausdruck übergeordneter Werte zu verstehen und so in Freiheit mit ihnen umzugehen. Er identifiziert sich weniger mit seiner beruflichen Karriere, seinem Ansehen und seiner Leistung. Dies bedeutet zum einen eine geringere Kränkbarkeit, zum anderen die Freiheit, sich inniger auf Beziehungen einzulassen. Der Mensch ist im Stande, Nähe und Ferne zu seinen Mitmenschen freier zu gestalten und sich auf mehrere, tiefergehende Beziehungen einzulassen, ohne dass eine Beziehung der anderen etwas nimmt. Verbindlichkeit und Treue, z. B. in der Ehe, erwächst nicht aus Treue zur Ordnung, sondern zur Person des anderen, die nun mehr und mehr als sie selbst, mit ihren Grenzen und Schwächen akzeptiert und bejaht wird.
Wie wir nach dem bisher Gesagten verstehen können, ist die menschliche Sexualität in ein komplexes, generationenübergreifendes Gefüge von Beziehungen eingepasst, dessen wesentliche Elemente aus evolutionärer, bindungstheoretischer und entwicklungspsychologischer Perspektive verstanden werden können. Über die Sexualität wird dieses Gefüge immer wieder neu hervorgebracht. Unser Sexualverhalten selbst wird dabei von den genannten Aspekten beeinflusst, die in einer inneren Ordnung zueinander stehen. Diese innere Ordnung wird aus anthropologischer Perspektive verständlich. Sexualität ist ein besonderes Beispiel für die Einheit von Naturvorgang und Selbsttranszendenz des Menschen, für die Integration eines Naturtriebs in die Freiheit liebender Begegnung. Die lustvolle Begattung teilt der Mensch mit der Tierwelt und nimmt mit ihr Teil an der Fruchtbarkeit der belebten Natur. Die menschliche Sexualität ist ganz in diese Selbstbezüglichkeit des Lebens eingebunden und ermöglicht zugleich die innigste Form der Gemeinschaft zwischen zwei Menschen, zwischen Mann und Frau.
Entscheidend ist der Kontext
Wesentlich für das Zustandekommen dieser Gemeinschaft in der menschlichen Sexualität ist ihr Kontext. Eine Überlegung, die für die Sexualpädagogik wichtig ist, denn vom Kontext hängt ab, ob der andere als Person angenommen oder benutzt wird. Mit Kontext ist vor allem die zeitliche Dimension des Menschen gemeint. Vergangenheit und Zukunft gehören nämlich zur Identität des Menschen. Eine Person anzunehmen bedeutet, seine Vergangenheit und Zukunft anzunehmen.
Es ist daher eine Illusion zu meinen, die Hingabe in der Sexualität könne sich unter Ausschluss der zeitlichen Dimension des Menschen verwirklichen. Wenn beispielsweise ein Mann zu einer Frau sagt, dass er sie liebt, in zehn Jahren aber nicht mehr lieben werde, dann liebt er sie auch gegenwärtig nicht. So betrachtet weist die personale Struktur der menschlichen Sexualität auf eine Lebensform hin, die die Voraussetzung dafür ist, dass die Selbsttranszendenz im sexuellen Akt zur Entfaltung kommen kann. Die Lebensform, in der die Annahme der Person in ihrer zeitlichen Dimension ihre Verwirklichung findet, ist die monogame Ehe zwischen Mann und Frau (26). Diese ist so betrachtet die kulturelle Antwort auf die Natur des Menschen als personales, zeitliches und geschlechtliches Wesen. Nach Hegel wird unter dem Gesichtspunkt der Eheschließung als bewusstem, personalem Akt die Sexualität zu einem der Personalität untergeordneten Moment. Nicht die sinnlich-sexuelle Einheit ist Grund für die personale Einheit, sondern die personale Einheit findet in der körperlichen Vereinigung ihren Ausdruck (28). Annahme der Person bedeutet dann natürlich auch Verzicht auf Sexualität, wo dies die Rücksicht auf den Partner erfordert. Sexualität schließt Verzicht mit ein, wenn sie human bleiben will.
Unter dieser personalen Perspektive erhalten die angesprochenen biologischen und psychologischen Aspekte der Beziehung zwischen Mann und Frau erst ihren Sinn und ihre Ordnung im Gefüge des Menschen als einem leiblichen, seelischen, personalen und zeitlichen Wesen. So erhält ihr evolutionär determiniertes Zueinander aus Sicht ihrer Personalität Bedeutung. Die Liebe zwischen Mann und Frau zeigt sich eingebettet in natürliche, sich ergänzende Verschiedenheit und bekommt von daher Leben, Farbe und Poesie. Die verschiedenen sexuellen Erregungsmuster zusammen mit den sich ergänzenden Geschlechtsorganen erfordern, dass sich beide Partner aufeinander einstellen. So kann die Sexualität ihre Gemeinschaft widerspiegeln (28). Die Dualität der Geschlechter im Tierreich kann so als spielerisch-bildhafte Spiegelung des Reichtums und der Vielfalt in den Ausdrucksmöglichkeiten der Gemeinschaft von Mann und Frau angesehen werden.
Auch die entwicklungspsychologischen Schritte der Selbstorganisation des Menschen gewinnen unter dem Aspekt seiner Personalität ihre eigentliche Bedeutung. In ihnen zeigt sich eine natürliche Tendenz zur Realisierung personaler Grundprinzipien wie Freiheit, Selbsttranszendenz und Gemeinschaft; kurz gesagt, eine natürliche Tendenz zur Realisierung einer dauerhaft gelungenen Liebesbeziehung.
Quellen
(1) Vgl. zu diesem Kapitel auch Christian Spaemann, Was muss gegeben sein, damit wir geben können? Überlegungen zur Anthropologie der Gabe, in: Maio (Hrsg.): Ethik der Gabe. Humane Medizin zwischen Leistungserbringung und Sorge um den Anderen, 2. Aufl. 2014, S. 159 ff.
(2) Vgl. Norbert Bischof, Biologie als Schicksal? Zur Naturgeschichte der Geschlechterrollendifferenzierung, in: ders./Preuschoft (Hrsg.): Geschlechtsunterschiede. Entstehung und Entwicklung. Mann und Frau in biologischer Sicht, 1980, S. 25 ff.
(3) Doris Bischof-Köhler, Von Natur aus anders. Die Psychologie der Geschlechtsunterschiede, 3. Aufl. 2011, S. 105 ff.
(4) Richard A. Lippa, Sex Differences in Sex Drive, Sociosexuality, and Height across 53 Nations: Testing Evolutionary and Social Structural Theories, Archives of Sexual Behavior 38 (2009), S. 631 ff.
(5 ) Doris Bischof-Köhler, Von Natur aus anders. Die Psychologie der Geschlechtsunterschiede, 3. Aufl. 2011, S. 114 ff.
(6) Vgl. Ulrich Clement/Angelika Eck, Weibliches Begehren, in: Stirn/Stark/Tabbert/Wehrum-Osinsky/Oddo (Hrsg.): Sexualität, Körper und Neurobiologie. Grundlagen und Störungsbilder im interdisziplinären Fokus, 2014, S. 366 ff.
(7) ebenda
(8) Doris Bischof-Köhler, Von Natur aus anders. Die Psychologie der Geschlechtsunterschiede, 3. Aufl. 2011, S. 144 ff.
(9) ebenda
(10) Doris Bischof-Köhler, op.cit. S. 109 ff.
(11) Doris Bischof-Köhler, op.cit. S. 148 ff. und S. 320 f.
(12) Doris Bischof-Köhler,op.cit. S. 325 f.
(13) Vgl. Karin Grossmann/Klaus E. Grossmann, Bindungen – das Gefüge psychischer Sicherheit, 2002, S. 223; Sara Harkness/Charles M. Super, The Cultural Foundations of Fathers’ Roles: Evidence from Kenya and the United States, in: Hewlett (Hrsg.): Father-Child Relations. Cultural and Biosocial Contexts, 1992, S. 191 ff.
(14) Es gibt auch geschlechtsspezifische Unterschiede im Spielverhalten von Müttern und Vätern, vgl. hierzu Doris Bischof-Köhler, op.cit. S. 132 f.
(15) Vgl. zu diesem Abschnitt auch Michael Matzner/Wolfgang Tischner (Hrsg.): Handbuch der Jungen-Pädagogik, 1.Aufl. 2008, sowie Michael Matzner/Irit Wyrobnik (Hrsg.): Handbuch der Mädchen-Pädagogik, 2010.
(16) Vgl. James E. Marcia, Identity in Adolescence, in: Adelson (Hrsg.): Handbook of adolescent psychology, 1980, S. 159 ff.
(17) ebenda.
(18) Karin Grossmann/Klaus E. Grossmann, op.cit. S. 597 ff.
(19) Vgl. Robert Koch-Institut (Hrsg.): Lebensphasenspezifische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Ergebnisse des Nationalen Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KiGGS), 2008, S. 21 ff.; Andreas Diekmann/Henriette Engelhardt, Alter der Kinder bei Ehescheidung der Eltern und soziale Vererbung des Scheidungsrisikos, in: Bien/Marbach (Hrsg.): Familiale Beziehungen, Familienalltag und soziale Netzwerke. Ergebnisse der drei Wellen des Familiensurvey, 1. Aufl. 2008; Paul R. Amato, Children of Divorce in the 1990s: An Update of the Amato and Keith (1991) Meta-Analysis. Journal of Family Psychology 15 (2001), S. 355 ff.
(20) Vgl. Elisabeth Fivaz-Depeursinge/Antoinette Corboz-Warnery, Das primäre Dreieck. Vater, Mutter und Kind aus entwicklungstheoretischsystemischer Sicht, 2001.
(21) Vgl. Peter Fonagy/György Gergely/Elliot L. Jurist/Mary Target, Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst, 2004.
(22) Vgl. Bernhard Strauß, Bindungstheorie, in: Stirn/Stark/Tabbert/Wehrum-Osinsky/Oddo (Hrsg.): Sexualität, Körper und Neurobiologie. Grundlagen und Störungsbilder im interdisziplinären Fokus, 2014, S. 46 ff.
(23) Vgl. Robert Kegan, Die Entwicklungsstufen des Selbst. Fortschritte und Krisen im menschlichen Leben, 6. Aufl. 1994.
(24) Vgl. hierzu Hartmut Esser, Das „Framing“ der Ehe und das Risiko der Scheidung, in: Huinink/Strohmeier/Wagner (Hrsg.): Solidarität in Partnerschaft und Familie. Zum Stand familiensoziologischer Theoriebildung, 2001, S. 103 ff.; sowie ders., Ehekrisen: Das (Re-) Framing der Ehe und der Anstieg der Scheidungsraten, Zeitschrift für Soziologie 31 (2002), S. 472 ff., der auf die große Bedeutung eines eindeutigen, am besten überindividuell verstandenen weltanschaulichen Rahmens für die Perspektive einer Ehe hinweist. Siehe hierzu auch Frank Gerbert, Kein Ehevertrag! Mehrere Kinder (Interview mit Hartmut Esser), Focus 10/2003, S. 136 ff.
(25) Robert Kegan, op.cit.
(26) Darauf, dass die verbindliche Gemeinschaft von Mann und Frau die relativ größte Lebenszufriedenheit, sexuelle Zufriedenheit und Chance auf Treue beinhaltet, weisen zahlreiche empirische Befunde hin. Vgl. u. a. Linda J. Waite/Maggie Gallagher, The Case for Mariage. Why Married People are Happier, Healthier, and Better Off Financially, 2000, S. 67 f. und 79 ff.; Claire M. Kamp Dush/Paul R. Amato, Consequences of relationship status and quality for subjective well-being, Journal of Social and Personal Relationships 22 (2005), S. 607 ff.; William D. Schempp/Robert T. Michael, Sex, Health, and Happiness, in: Laumann/Gagnon/Michael/Michaels (Hrsg.): The Social Organization of Sexuality: Sexual Practices in the United States, 2000, S. 351 ff.; Renata Forste/Koray Tanfer, Sexual Exclusivity Among Dating, Cohabiting, and Married Women, Journal of Marriage and the Family 58 (1996), S. 33 ff.
(27) Vgl. hierzu Eva Bockenheimer, Hegels Familien- und Geschlechtertheorie, 2013.
(28) Erwähnt sei hier auch die besondere Wirkung des Hormons Oxytocin, das bei Zärtlichkeiten, besonders beim Orgasmus ausgeschüttet wird und exklusiv die Bindung an den Partner verstärkt. Vgl. u.a. Dirk Scheele/Nadine Striepens/Onur Güntürkün/Sandra Deutschländer/Wolfgang Maier/Keith M. Kendrick/René Hurlemann, Oxytocin Modulates Social Distance between Males and Females, Journal of Neuroscience 32 (2012), S. 16074 ff.
—
Dr.med. Mag.phil. Christian Spaemann ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin. www.spaemann.com