Die CVP verabschiedet sich vom „C“ im Namen. Dennoch sieht sie sich weiterhin von christlichen Werten inspiriert.
Von Dominik Lusser
Auch wenn sich die Christlichdemokratische Volkspartei (CVP) heute als überkonfessionell versteht. Eine politische Grösse war sie stets nur wegen ihrer Stärke in den katholischen Gebieten: besonders in der Innerschweiz, im Wallis, im Tessin und in Freiburg. Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil in den 1960er-Jahren wurden innerhalb der Partei Stimmen laut, aus dem „katholischen Ghetto“ auszubrechen, das „C“ aus dem Namen zu streichen und sich dem gesellschaftlichen Wandel anzupassen. 1970 legte man sich allerdings auf den Namen CVP fest. Seit den 1980er-Jahren sind die Wähleranteile deutlich rückläufig. In den 1990er- und 2000er-Jahren verlor die Partei wertkonservative Wähleranteile an die Schweizerische Volkspartei (SVP). 2019 verzeichnete die CVP mit 11,4 Prozent der Stimmen ihr bis dato schlechtestes Wahlergebnis auf nationaler Ebene, womit sie hinter den Grünen nur noch als fünftstärkste Partei dasteht.
Verrat an christlichen Werten
Über die Finanz-, Wirtschaft-, Migrations-, Sozial- und EU-Politik der CVP kann man als Christ denken, was man will. Gesellschaftspolitisch aber vertritt die Partei immer häufiger Positionen, die mit christlichen Werten schlicht nicht mehr vereinbar sind. Ein erster Tiefpunkt in der jüngeren Parteigeschichte markierte die Abstimmung über die Fristenregelung von 2002. Die CVP selbst hatte das Referendum gegen die Legalisierung der Abtreibung ergriffen, was heute undenkbar wäre. Mehrere Kantonsparteien sowie die CVP-Frauen plädierten vor dem Urnengang allerdings schon damals für ein Ja zur Tötung ungeborener Kinder.
Danach ging es Schlag auf Schlag: In Zusammenhang mit den Diskussionen um die Legalisierung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften kritisierte Kardinal Kurt Koch, damals Bischof von Basel, 2003 in einem Interview mit der Sonntags-Zeitung die Haltung der CVP: Es gehe nicht an, das „C“ im Namen zu tragen und gleichzeitig die Meinung zu vertreten, der Glaube sei eine Privatsache und habe mit Politik nichts zu tun. Der Appell verhallte aber ungehört. Heute opfert die CVP ihre Werte, um ja nicht als die Partei in die Geschichte eingehen zu müssen, die der „Ehe für alle“ im Wege stand. Dafür setzt sie sogar ihren Ruf als Familienpartei aufs Spiel. Im Februar 2020 zog sie ihre 2012 eingereichte Volksinitiative „Für Ehe und Familie – gegen die Heiratsstrafe“ zurück, ein Schritt, den die NZZ als „ebenso peinlich wie aufschlussreich“ kommentierte. Ziel der Initiative war es, die steuerliche Benachteiligung von 700’000 Ehepaaren gegenüber Konkubinatspaaren zu beenden. Beiläufig hätte die Heiratsstrafe-Initiative die Ehe explizit als „Verbindung von Mann und Frau“ in der Verfassung verankert, was die Partei, in der die Stimmung innert weniger Jahre zugunsten der Homo-„Ehe“ gekippt war, vor ein grosses Dilemma stellte.
Um dem Wählerschwund Einhalt zu gebieten, verfolgt die Parteispitze im Rahmen des Strategieprozesses #CVP2025 ein doppeltes Ziel: Durch den neuen Parteinamen „Die Mitte“ will man nicht-christliche Wählerstimmen gewinnen. Gleichzeitig bemüht man sich – ebenfalls unter der Bedingung dieses Namenswechsels – um eine Fusion mit der Bürgerlich-Demokratischen Partei (BDP). Dabei ist die Frage mehr als berechtigt, ob die 2,5 Prozent Wähleranteil der zuletzt arg geschrumpften BDP die Preisgabe des „C“ tatsächlich wert sind. Dies umso mehr, als die ehemalige Bundesratspartei BDP in den letzten Jahren durch aggressive LGBT-Klientelpolitik von sich Reden gemacht hat und das Werterückgrat der CVP weiter schwächen dürfte.
Spiegel der Kirche?
Das gesellschaftspolitische Abdriften der Partei in den linksliberalen Mainstream betrifft aber nicht nur die vielen Mitglieder, die sich der Kirche längst entfremdet haben. Der Solothurner CVP-Nationalrat Stefan Müller-Altermatt, Mitglied der Bioethikkommission der Schweizer Bischofskonferenz (SBK), stimmte am 11. Juni 2020 ebenso für die „Ehe für alle“ inklusive Adoptionsrecht wie seine Luzerner Parteikollegin Priska Wismer-Felder, die in ihrer Pfarrei als Kommunionhelferin und Lektorin wirkt. Die beiden sind keine Einzelfälle. Erstaunen vermag dies freilich nicht, hatte doch die SBK im Juni 2019 erklärt, die zivilrechtliche Ehe gehöre nicht zu ihrem Zuständigkeitsbereich und wolle daher auf eine Stellungnahme zum Gesetzesprojekt „Ehe für alle“ verzichten. Ein Indiz dafür, dass sich die Bischöfe auch im Wesentlichen nicht mehr einigen können, weil ein Teil von ihnen – genauso wie die CVP – den christlichen Wertekompass verloren zu haben scheint. So beispielsweise der Basler Bischof Felix Gmür, seit 2019 Präsident der SBK, der im August 2019 über seinen Pressesprecher verlauten liess, der zivilrechtlichen „Ehe für alle“ positiv gegenüberzustehen.
Es liegt nahe, den Niedergang der CVP auch als Spiegelbild der tiefen Krise zu sehen, in der sich die katholische Kirche in der Schweiz seit Jahrzehnten befindet und die sich nun immer mehr zuspitzt. Daran ändert auch nichts, wenn viele CVP-Vertreter sich heute schämen, mit der Kirche in Verbindung gebracht zu werden. Letztlich sind es die gleichen gesellschaftlichen Entwicklungen, die einerseits dazu geführt haben, dass die katholische Kirche in der Schweiz in weiten Teilen nicht mehr katholisch ist, und die anderseits den Verlust der christlichen Substanz in der CVP ins Rollen gebracht haben.
Unter dem Titel „CVP für alle“ beschrieb die NZZ im Februar 2020 den laufenden Reformprozess der CVP als einen „Spagat“: „Die konservativen Stammwähler bei Laune halten und gleichzeitig eine moderne Politik machen, die ein junges, urbanes Publikum anspricht.“ Richten soll es unter anderem die neue Fraktionspräsidentin und Luzerner Ständerätin Andrea Gmür-Schönenberger, Schwägerin von Bischof Gmür. Der Glaube sei persönlich und habe mit Politik nichts zu tun, findet die 55-jährige vierfache Mutter. „Auch nicht mit CVP-Politik“, wie sie gegenüber der NZZ erklärte. Das „C“ stehe für christliche Werte, nicht für die Religion. Sie selbst möchte das „C“ beibehalten, lehnt die Diskussion über eine Namensänderung aber nicht grundsätzlich ab. Gleichzeitig gehörte Gmür-Schönenberger aber zu den Ersten, die sich in der CVP zu Gunsten der „Ehe für alle“ aussprachen.
„Die Mitte“ oder „CVP für alle“
So sieht das Ergebnis einer Politik der „christlichen Werte“ aus, die nichts mehr mit dem christlichen Glauben zu tun haben darf. Möglicherweise aus einer übersteigerten Angst heraus, dem Nichtgläubigen per Gesetz eine Glaubenswahrheit aufzuzwingen, oder aufgrund eines fragwürdigen Verständnisses der Trennung von Kirche und Staat bzw. von Glaube und Politik, wird nicht nur dem christlichen Glauben jede Einflussname auf die Politik untersagt, sondern nicht selten auch dem gesunden Menschenverstand. Eine Schuld trifft hier wiederum jenen Teil der Kirche, der es nicht mehr für zeitgemäss hält, sich auf das Naturrecht zu berufen.
In der CVP sind es viele, die das differenzierte christliche Menschenbild mit dem Gleichheitswahn der Linken zu verwechseln scheinen, der alles mit der Guillotine zurechtstutzt, was – wie die Ehe von Mann und Frau – als Besonderheit hervorsticht. In der Quintessenz wird man so zum Adepten einer säkularistischen Zivilreligion mit dem Werterelativismus als oberstes Dogma. Gerechtigkeit und Gemeinwohl bleiben auf der Strecke. Es liesse sich an zahlreichen weiteren Beispielen zeigen: „CVP für alle“ – unter welchem Namen auch immer – ist nicht bloss ein Spagat, sondern eine halsbrecherische Trapeznummer. Von der christlichen Substanz kann dabei so oder so nichts mehr übrigbleiben.
Zu denen, die dem „C“ im Parteinamen mindestens gleichgültig gegenüberstehen, zählt auch CVP-Bundesrätin Viola Amherd, die bei der Delegiertenversammlung am 5. September 2020 dennoch dafür warb, christliche Werte „auch in der Politik“ zu leben. Wie sie diese Werte definiert, hatte sie bereits im Dezember 2019 im Interview mit „CH Media“ verraten und gleichzeitig bekannt, dass sie selbst an Weihnachten nicht in die Kirche geht: „Die christlichen Werte – letztlich sind es universelle Werte, die man in allen Religionen findet.“