Nur in der Türkei unter Recep Tayyip Erdogan ist so etwas möglich: Da wird mitten in der zweiten Corona-Welle ein für Covid-Kranke bestimmtes Krankenhaus beschlagnahmt, um daraus eine Schule für Moscheeprediger zu machen. Geschehen auf der Insel Heybeli nahe bei Istanbul.
Von Heinz Gstrein
Die Insel ist berühmt für die milde, heilende Luft ihrer Pinienwälder und eine erfrischende Meeresbrise. Der Vater der modernen Türkei, Europäisierer Kemal Atatürk, hatte dort 1924 die erste Lungenheilstätte des Landes errichtet. Tuberkulose war damals noch eine Volkskrankheit. Bis zur jüngsten Vergangenheit bemühten sich in dem Spital über 100 Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger um bis zu 660 Lungenkranke aus der ganzen Türkei.
Nach dem Rückgang der Tuberkulose und dem Ausbruch des neuen Massenvirus Corona in einer Zeit, in der entsprechend ausgerüstete türkische Spitäler knapp sind, sollte das Lungensanatorium zur Covid-Klinik werden. So jedenfalls plante das Gesundheitsministerium in Ankara, so hofften die der Pandemie weitgehend ungeschützt ausgelieferten Menschen auf Istanbuls Inseln und vor allem drinnen in der Stadt. Machthaber Erdogan durchkreuzte diese Erwartungen jedoch im Frühherbst mit einem Erlass, der das Krankenhaus der Staatlichen Islamischen Religionsbehörde DIP unterstellte. Die weitläufigen Anlagen des Sanatoriums und ihre Nachbarschaft sollen Ausbildungsstätte für einen internationalen islamischen Klerus werden, der Erdogans Pläne auf eine globale Muslim-Herrschaft in alle Welt trägt.
Auf dem Gelände der nahen Einsiedelei zur Verklärung Christi haben die Bulldozer bereits ihr Werk begonnen und die kleine Kirche abgerissen. Die Baustelle wurde mit Stacheldraht gegen den rechtmässigen Eigentümer abgesichert, die orthodoxe Kirche. Im 19. Jahrhundert war Heybeli, auf griechisch Chalki, noch eine rein christliche Insel, in deren Wäldern Einsiedler lebten. Jetzt wurde ihre Verklärungsklause der neuen Islam-Hochschule „einverleibt“, noch ehe der Studienbetrieb überhaupt begonnen hat.
Auf der Insel, wo heute fast nur mehr Türken wohnen, hat sich sofort eine Bewegung für die Umwidmung des bestehenden Spitals in die geplante Corona-Klinik organisiert. Ihr Sprecher Cengiz Gökcek, der aus einer angesehenen Juristenfamilie stammt, argumentiert: „In solchen Seuchenzeiten müsste das Gesundheitswesen vor allem anderen Vorrang haben!“
In der Religionsbehörde DIP beruft man sich darauf, dass Heybeli immer schon eine Schulinsel gewesen sei. Schon 1773 hatte dort Reformsultan Mustafa III. eine Marine-Akademie gegründet. Auf sie kann die Insel aber nicht mehr stolz sein, da sie sich am Aufstand des Militärs gegen die Erdogan-Diktatur vom 15. Juli 2016 beteiligte und nach der Niederschlagung geschlossen wurde.
1831 wurde auf Heybeli am Kamariotissa-Kloster die erste Handelsschule des Osmanischen Reichs gegründet. 1942 enteignete sie die türkische Marine, die dort seitdem ihre Telegrafisten ausbildete. Heute ist auch diese Schule geschlossen, die alte Klosterkirche dient als Holzschuppen.
Berühmteste Bildungsstätte von Heybeli bzw. Chalki war jedoch ihre Theologische Hochschule im Dreifaltigkeitskloster. Sie gründete 1844 der christenfreundliche Sultan Abdül Mecid I., eine der lang führenden Lehranstalten der Weltorthodoxie. Dort wurden künftige griechische und südslawische Geistliche, Rumänen, Araber, vor allem Priesterstudenten aus der europäischen und überseeischen Diaspora sowie Fachtheologen ausgebildet. Auch die Schweizer orthodoxen Pfarrer in Zürich, Lausanne und St. Gallen haben noch Anfang der 1960er Jahre auf der Insel Chalki studiert.
Der heutigen Türkei war aber die Theologische Hochschule als christliches geistiges Zentrum schon lang ein Dorn im Auge: 1964 wurde „Chalki“ für ausländische Staatsbürger gesperrt. Das bedeutete einen schweren Schlag für seine interorthodoxe und ökumenische Ausstrahlung. 1971 folgte dann totales Verbot des Studienbetriebs. Und das bis heute.
Auf der traditionell multireligiösen und -kulturellen Schulinsel Heybeli wird es daher bald nur die neue islamische Lehranstalt von Erdogans Gnaden geben …