Kant war ein Mann der Ordnung. Gemäss ihm haben wir die Pflicht, dem Regierenden zu gehorchen. Doch ist die Pflicht untrennbar mit dem Recht verknüpft, diesen zu kritisieren.
Von Alejandro Navas
Eine Regierung zeigt, dass sie fair spielt und das Gemeinwohl im Sinn hat, wenn sie den freien Informationsfluss erlaubt, ja fördert. Wenn sich die Demokratie durch die Abhaltung regelmässiger freier Wahlen definiert, heisst „frei“ sowohl das Recht, zu wählen und gewählt zu werden als auch die Möglichkeit, über Vorschläge und Kandidaten zu diskutieren. Wie der freie Markt das am besten geeignete Verfahren zu sein scheint, um eine effiziente Ressourcenverteilung zu erreichen, ist die freie Debatte und die Zirkulation der Meinungen die Grundlage dafür, dass die Bürger sich über öffentliche Angelegenheiten gebührend informieren und verantwortlich handeln können. Diese Debatte spielt sich typischerweise in den entsprechenden politischen Foren und den Medien ab.
Lange waren die Informationsmedien in der Hand von Familien, die meist in ihren Gemeinschaften verwurzelt und diesen verpflichtet waren. Diese Tradition ändert sich: Wir beobachten einen unaufhaltsamen Trend zur Konzentration, an deren Ende grosse Multimedia-Konzerne mit internationaler Reichweite stehen. „Skaleneffekte“ und „Synergie“ sind Stichworte, die wie ein Mantra den Prozess begründen und begleiten. Zwar ist die mediale Konzentration der Freiheit nicht immer abträglich. Es gibt ehrenvolle Ausnahmen: das Wall Street Journal hat seine redaktionelle Linie nach dem Kauf durch Rupert Murdoch nicht verändert, genauso wie die Washington Post nach der Übernahme durch Jeff Bezos. Aber der Kommunikationssektor entkommt nicht dem, was ein unweigerliches ökonomisches Gesetz zu sein scheint – laut Prognosen wird es wohl am Ende in allen Wirtschaftssektoren nicht für mehr als drei oder vier Marken Platz haben. Es ist viel Geld im Spiel, Rendite wird zum bestimmenden Handlungskriterium, in den Medienunternehmen übernehmen Geschäftsführer das Ruder, die auf Aktionäre und Märkte fixiert sind.
Oft wird die Verminderung der Vielfalt betont, die mit diesem Prozess der Unternehmenskonzentration und der Nähe der grossen Multimedia-Konzerne zu den Regierungen einhergeht. Einerseits ist der Kommunikationsmarkt kompetitiver geworden (trotz des Rückgangs der Drucktitel). Der audiovisuelle Sektor zeigt den Trend sehr schön: Das Angebot an Kanälen und Sendern ist viel stärker gewachsen als die Werbeinvestitionen, und aus einer Welt mit wenigen Kanälen und Sendern mit einem breiten Angebot sind wir bei hunderten von spezialisierten Medien gelandet. Die Beziehung zwischen Medien und Anzeigenkunden, zentral für den Fortbestand der traditionellen Informationsunternehmen, war immer heikel; nun, da die Werbung zurückgeht oder andere Wege sucht, ist sie es noch mehr. Der Kampf um Einschaltquoten ist grausam, die Nachfrage scheint sich gegenüber den Anbietern bei der Definition des Contents durchzusetzen. Der Rückgriff auf das Einfache – Sex, Gewalt, Spektakel, Demagogie, ideologische Stereotypen – verdrängt zu oft die seriöse Arbeit. Das widerfährt selbst glaubwürdigen Medien (siehe den Fall Relotius beim Spiegel).
Andererseits verdirbt die Nähe zur Politik auch das Nachrichtenwesen. Die Beziehung zu staatlichen Organen war immer problematisch und konfliktgeladen, zumindest solange die Medien ihre Aufgabe als „Wachhunde“ der Freiheit und der Demokratie ernst nahmen. Die aufkommenden Multimedia-Konzerne suchen fast natürlich die Nähe zum Staat. Im Grenzbereich gibt es dann Situationen wie in Italien, wo ein Medienmogul Ministerpräsident wird, um sein Medienimperium zu retten, das von einer feindseligen Gesetzgebung bedroht war. In ideologisch immer stärker polarisierten Gesellschaften ist zudem die Wiederkehr der Parteipresse zu bemerken – eines Phänomens, das wir überwunden glaubten. Viele politische Kommentatoren stehen im Dienst politischer Parteien oder Lobbygruppen und nutzen ihre Position zu Indoktrination und Intoxikation. Folglich findet sich der Feind immer häufiger in den eigenen Reihen: Reporter und Redakteure geraten in Konflikt mit den wirtschaftlichen Interessen der neuen Eigentümer. In den Redaktionen herrscht Pessimismus und Stress. Das erste Opfer dieser Interessenkonflikte ist die Glaubwürdigkeit.
Ein neues Meinungsklima
Heute halten wir das Paradigma der Objektivität für überholt: Die Medien sind weder ein Spiegel, der das gesellschaftliche Geschehen aseptisch wiedergibt, noch der Notar, der sich auf das Protokollieren des Geschehens beschränkt, um nur zwei Bilder zu bemühen, die die Medien selbst oft einsetzen, um sich zu definieren. Sie stehen nicht ausserhalb der Gesellschaft, um sie objektiv analysieren und beschreiben zu können, sondern sie sind selbst gesellschaftliche Akteure. „Reine Tatsachen“ gibt es nicht, das sind in hohem Masse intellektuelle Konstrukte. Der von den Medien vermittelte Inhalt ist stets Ergebnis einer Auswahl, die nach bestimmten Kriterien in einem vorgegebenen Kontext (framing) getroffen wird, der sich auf die Perzeption und die Interpretation durch die Journalisten auswirkt. Das bedeutet aber nicht, dass es unmöglich ist, wahrhaftige und geprüfte Informationen zu vermitteln und auf die Glaubwürdigkeit der Quellen zu achten.
Die Grenzen zwischen Information, Unterhaltung und Persuasion verwischen. In unseren Gesellschaften macht sich eine wachsende Polarisierung bemerkbar. Der Konsens über zentrale Aspekte des Menschseins existiert nicht mehr: das Statut des menschlichen Lebens, die Person, Sexualität, Ehe und Familie, der Tod … Die moderne Freiheit, eine köstliche Errungenschaft, erlaubt es jedem zu denken und zu leben, wie er möchte. Die offene Gesellschaft lehnt absolute Werte ab und setzt auf Toleranz, auch wenn der Bruch des Konsenses die soziale Kohäsion bedroht. Die Lösung für dieses Problem besteht in der Legitimation durch Verfahren (Luhmann), doch zeigte Böckenförde, dass das Verfahren sich selbst nicht genügt und sich notwendigerweise auf absolute Postulate stützt. Gleichzeitig erlebt die Demokratie nach ihrem weltweiten Triumphzug derzeit eine Krise und verliert an Unterstützung bei den Menschen. Populismus und Nationalismus mit ihren Versprechen einfacher Lösungen für komplexe Probleme breiten sich aus. Soziale Bewegungen wie Ökologismus, Pazifismus, Feminismus, die Genderideologie mit ihren Varianten, Animalismus und Veganismus prosperieren. Begriffe wie Affirmative Action und positive Diskriminierung besetzen das Feld. Das Internet akzentuiert diese Phänomene. Statt eines authentischen Austausches von und der Debatte über Ideen, wird, wer anders denkt, angeschrien, beleidigt und disqualifiziert. Es herrscht ein Tribalismus. Die Anonymität begünstigt die – reale oder virtuelle – Gewalt der Masse. Informationsmedien wie die Deutsche Welle oder die NZZ haben deshalb ihre Leserkommentarfunktion geschlossen – und dies in angeblich zivilisierten Ländern.
Die Justiz politisiert sich, die Politik justizialisiert sich. Es gibt gerechtigkeitsliebende Richter, die sich nicht auf die Anwendung des Rechts beschränken, und Politiker, die sich zu strittigen Fragen nicht festlegen, sondern diese an die Justiz weiterreichen. Die Nachlässigkeiten der Politik laden die Justiz ein zu Grenzüberschreitungen. Mediale Lynchjustiz, verstärkt über die sozialen Medien, konditioniert die Arbeit von Richtern und Gesetzgebern. Die Justizialisierung des gesellschaftlichen Lebens spiegelt den Vertrauensschwund unter den Menschen und zu den Institutionen. In dieser dumpfen Atmosphäre scheinen die, die am lautesten schreien, das Rennen zu machen. Phänomene wie die «Schweigespirale» bringen Mehrheiten zum Schweigen. Aktivisten beschränken sich nicht nur darauf, ihre Ideen mehr oder weniger aggressiv zu verfechten, sondern verdienen sich oft auch damit ihren Unterhalt: Aktivismus mobilisiert reichlich Geldmittel, die viele Münder nähren. Der «Dritte Sektor» ist gar nicht so philanthropisch und uneigennützig, wie er sich gibt: Viele NGOs und vorgeblich gemeinnützige Einrichtungen schaffen gewaltige Bürokratien, die einen Grossteil ihrer Etats verschlingen. So kämpfen sie sowohl für die Verbreitung ihrer Ideen wie auch für den Erhalt lukrativer Arbeitsplätze (was in den Debatten oft vergessen wird).
Dieses unzuträgliche Meinungsklima macht vor der Universität nicht Halt. Sie ist nicht länger die letzte Bastion für freie Forschung und Debatte. Jonathan Haidt und Greg Lukianoff haben das in den USA im Detail untersucht. Ihre Beschreibung dürfte mutatis mutandis auch für andere westliche Länder gelten. Die ideologische Radikalisierung findet in einer fragilen, überbeschützten und unreifen Jugend einen gut gedüngten Boden und nährt eine Kultur, die Sicherheit sucht und die Auseinandersetzung mit Ideen scheut. Die Vertrautheit des akademischen Lebens geht verloren. Daran sind Professoren und Institutionen nicht unschuldig. Man hat Angst, öffentlich zu Meinungen zu stehen, die man im Privaten äussert (ein typisches Kennzeichen diktatorischer Regime), Angst vor physischen Angriffen durch Hetzer, vor moralischer Verurteilung in den sozialen Netzwerken, aber auch vor dem Verlust der Stelle oder von Forschungsgeldern.
Charakter und Mut: Notwendige Voraussetzung
Die „Soziologie des Journalismus“ identifiziert die Faktoren, die Redakteure und Herausgeber bei Auswahl und Einbettung der Informationen berücksichtigen müssen: Die redaktionelle Linie des Mediums, die Ansprüche der Leser- und Hörerschaft bzw. die Interessen der Werbekunden haben einen Einfluss, aber keiner dieser Punkte ist entscheidend. Wichtiger ist das erwartete Echo der Informationen unter den Kollegen, speziell der „Meinungsführer“ in der Medienbranche. Das können sowohl natürliche Personen als auch Medien sein. Journalisten sind vor allem ihrem eigenen Berufskollektiv verpflichtet, ihrer Zunft. Letzten Endes sind sie alle nur Menschen und haben – wie alle Sterblichen – Angst vor Isolierung. In der Theorie der «Schweigespirale» wurde dieses Phänomen für die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit untersucht. Baltasar Gracián hat das mit gewohnter Klarheit schon vor Jahrhunderten festgestellt, als er schrieb, dass viele Menschen der Maxime «Lieber verrückt mit dem Rest der Welt, als allein und weise» folgten.
Die Klagen in den meisten Redaktionsstuben ähneln sich: prekäre Verträge, niedrige Gehälter für die einfachen Reporter (die leitenden Mitarbeiter werden meist gut bezahlt), Verlust von Unabhängigkeit und Freiheit, Einmischung, Arbeitsüberlastung, Vertiefung des Grabens zwischen Eigentümern und Leitung einerseits und Redakteuren anderseits, wodurch sich beide Gruppen misstrauisch, wenn nicht feindselig begegnen. Glücklicherweise gibt es Ausnahmen, auch innerhalb des traditionellen Journalismus. So findet man Zeitungen und Zeitschriften, deren Auflage und Einfluss kontinuierlich steigen, ohne dass sie ihre eigenen Prinzipien verraten müssten, etwa The Economist. Anscheinend fürchten die Leute keine langen Texte, wenn sie gut geschrieben sind und wichtige Angelegenheiten behandeln. Auch das Internet benötigt qualifizierte Redakteure und Journalisten, die in der Lage sind, so zu berichten und zu interpretieren, dass sie den vielen Internet-Surfern, die von der Informationslawine überfordert sind, Orientierung bieten.
Dabei zeichnet sich ein guter Profi immer durch seine intellektuelle und fachliche Vorbereitung wie durch seine ethische Integrität aus. Wie kann man den Charakter formen? Was tun, um dem Druck von Macht und Geld standzuhalten? Gibt es ein Antidot gegen den Trend zu Narzissmus und Selbstbezogenheit? Natürlich müssen Deontologie und Berufsethos im Curriculum der Journalisten ihren Platz haben. Man muss lesen, untersuchen, argumentieren, debattieren. Aber das Entscheidende findet sich nicht in Texten, sondern im Leben selbst. Gut zu sein lernt man im Zusammenleben mit guten Menschen, durch gute Beispiele. Wichtig sind gute Beispiele von Medienschaffenden, die unter widrigsten Bedingungen gründliche und ehrliche Arbeit leisten. Ich denke an diese wirklichen Helden, die ihre Freiheit, ja ihr Leben aufs Spiel setzen, um beispielsweise in China, der Türkei, Russland oder Mexiko zu recherchieren und die Menschen zu informieren. Manchmal handelt es sich um Berufsjournalisten, die auf wundersame Weise und gegen alle Widerstände regimekritische Medien voranbringen – wie Nowaja Gaseta in Russland. Es gibt auch Journalisten, die in der Lage sind, alleine eine ganze Regierung in die Enge zu treiben, wie Jorge Lanata im Argentinien der Kirchners oder Yoani Sánchez in Castros Kuba. Solche Profis arbeiten aber auch mitten unter uns: Denis Robert in Frankreich oder Juan Moreno in Deutschland. Auch in anderen sozialen Bereichen, die dem Journalismus fernstehen, gibt es Bewegung, so in den USA die Erklärung der «Chicago Principles of Free Expression» (2015), die von einer wachsenden Zahl von Institutionen unterzeichnet wird, vor allem Universitäten. Freiheitsliebende Menschen mobilisieren und organisieren sich. So ist beispielsweise Greg Lukianoff selbst Vorsitzender von FIRE (Foundation for Individual Rights).
In anderen – beinahe noch verdienstvolleren – Fällen erheben einfache Leute ihre Stimme gegen Tyrannen: Raffaella Otaviano, die sich mit 70 Jahren vor der neapolitanischen Camorra aufpflanzte und es schaffte, alle Händler in Herculaneum zu vereinen, um mit dem „Pizzo“, dem Schutzgeld, aufzuräumen; Ding Zilin, Gründerin der „Mütter des Tiananmen“, die bei diesem Massaker ihren 17-jährigen Sohn verlor und unbeirrt darum kämpft, die Wahrheit ans Licht zu befördern. Schliesslich seien die „Whistleblower“ genannt, die grosse Risiken auf sich nehmen, um Missstände anzuzeigen, die sie bei ihrer Arbeit in öffentlichen oder privaten Einrichtungen entdecken.
Nach den Worten einer weisen Frau in Platons Timaios ist jede Ordnung von Natur aus fragil. Sobald die sozialen Akteure aufhören, sich anzustrengen, wenn sie vertrauensselig werden und in ihrer Wachsamkeit nachlassen, gewinnt die Entropie Raum, die Ordnung zerfällt, das Chaos kehrt zurück. Diese Gefahr war stets ein bevorzugtes Argument von Tyrannen, um die Freiheit zu beschneiden und das Volk zu unterdrücken: „Entweder das Chaos oder ich.“ Man beruft sich auf angebliche interne oder externe Bedrohungen, um den Ausnahmezustand zu deklarieren, der mit der Zeit zum Normalzustand werden soll. Wenn das gelingt, besteht die Gefahr, dass die jüngeren Generationen nicht einmal mehr eine Idee von einem Leben in Freiheit haben.
Die Sozialwissenschaften nahmen lange an, dass Freiheiten ein ganzheitliches Gefüge darstellen und voneinander abhängig sind, dass also etwa die wirtschaftliche Freiheit mit der Zeit auch nach politischer Freiheit verlange. Sobald die Menschen Gefallen daran finden, zu reisen, Unternehmungen zu starten und Handel zu betreiben, verlangen sie auch nach politischer Freiheit und Demokratie, und zwar aus rein ökonomischen Gründen, da dieses politische System grösseren Wohlstand erlaubt, sowie aus Liebe zur Freiheit. Dieser Gedankengang hat in Ländern wie Spanien unter Franco oder dem Chile Pinochets funktioniert: Die in den letzten Zügen der Diktatur erlangte wirtschaftliche Freiheit erleichterte den Übergang zur Demokratie. Entsprechende Erwartungen gab es daher auch, als die chinesische Regierung auf wirtschaftliche Freiheit und Kapitalismus setzte. Viele Analysten meinten, das chinesische Volk werde die politische Freiheit einfordern, wenn es Geschmack an der freien Wirtschaft gefunden habe. Es kam anders. Millionen Chinesen scheinen sich in einer Lage wohlzufühlen, die uns im Westen fremd erscheint.
Ähnliches sehen wir beim Internet und seiner angeblich demokratisierenden Wirkung. Das Netz hat den einfachen Leuten eine Stimme gegeben. Der Rückgang des informativen Pluralismus wurde durch eine Vervielfachung der Stimmen in den sozialen Netzwerken kompensiert. Jeder kann heute Nachrichten in die Welt posaunen. Und China ist – mit hunderten Millionen Nutzern – der grösste Internetmarkt. Man hatte Hoffnung auf eine demokratisierende Wirkung dieser schnellen Ausbreitung des Netzes gesetzt. Doch haben sich die optimistischen Prognosen nicht erfüllt. Die chinesische Regierung agierte so clever wie skrupellos, indem sie das Internet in ein Intranet verwandelte. Man fand die Mittel, um eine unerbittliche Zensur zu installieren: entsprechende Gesetze, eine spezialisierte Polizei, Förderung der Denunziation (mittels monetärer Belohnung). In- und ausländische Konzerne haben sich ohne viel Aufhebens den Forderungen der Regierung gefügt. Der weltgrösste Markt – mit seinen fabelhaften Geschäftserwartungen – setzt sich problemlos gegen das Freiheitsbestreben durch. Es ist zwar richtig, dass die Kontrolle nicht erschöpfend ist und kleinere Inseln der Freiheit bestehen, aber es gibt nur wenige chinesische Dissidenten, und diese riskieren viel. So überrascht es nicht, dass China im weltweiten Pressefreiheitsranking (2019) der Reporter ohne Grenzen Platz 177 unter 180 Ländern einnimmt. Danach kommen nur noch Eritrea, Nordkorea und Turkmenistan.
Nun zeigt China Interesse an einem neuen Experiment: der Nutzung von Big Data zur Kontrolle der Bevölkerung. Das System wird bereits in einigen Pilotstädten angewandt, und die Regierung will es schrittweise auf das ganze Land ausdehnen. Hunderte Millionen von Kameras überwachen dann jede Bewegung und Aktivität der dortigen Menschen. Übertreter werden mit einem Punktesystem sanktioniert. Was ist beunruhigender, der totalitäre Wahnsinn der Regierung oder die Bereitschaft eines Grossteils der Bevölkerung, sich fügsam der Überwachung zu unterwerfen? Es handelt sich dabei nicht um ein ausschliessliches Kennzeichen orientalischen Despotismus’, denn etwas davon finden wir auch in zwei der traditionsreichsten und gefestigtsten Demokratien der Welt – Grossbritannien und der Schweiz. Bis China das ganze Land mit Kameras abdeckt, wird Grossbritannien das Land sein, das am besten videoüberwacht ist. Und die Schweiz hat kürzlich für eine Verstärkung der Überwachung gestimmt: Sicherheit behauptet sich gegen die Freiheit.
Kant beschrieb die Aufklärung als den Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit, aus jenem Zustand, in dem der Mensch sich – aus Feigheit und Faulheit – nicht seines Verstandes bedient. Man musste Mut haben, Freiheit zu leben, ohne abzuwarten, bis die Autorität sich bereitfand, diese zu gewähren. Heute bedarf es einer ähnlichen Haltung, um die mächtigen Feinde der Meinungsfreiheit zu besiegen. Wie das Mädchen im Andersen-Märchen, das schlicht und einfach auf die Nacktheit des Kaisers hinwies, muss man beginnen, das Offensichtliche zu benennen. Dafür braucht es weder grosse Mittel noch eine besondere Qualifikation. Es reicht der gesunde Menschenverstand und ein Minimum an moralischer Integrität. Alles beginnt damit, die Dinge bei ihrem Namen zu nennen, den Wörtern ihren originären Sinn zurückzugeben und auf eigennützige Euphemismen zu verzichten. Die Verbreitung des Postfaktischen und der Grad der Manipulation sind erschreckend, aber die Anziehungskraft der Wahrheit, des Guten und der Schönheit wird am Ende stärker sein.
Alejandro Navas lehrt Öffentliche Kommunikation an der Universität von Navarra in Spanien. Der Aufsatz ist eine gekürzte Fassung eines Vortrags vor der Schweizer Progress Foundation. Er erschien im September in dem Tagungsband „Reden und reden lassen. Anstand und Respekt statt politische Korrektheit“ bei NNZ Libro. Herausgeber sind der Ökonom Gerhard Schwarz und der Ethik-Professor Stephan Wirz.
Quelle: idaf, Aufsatz des Monats, Dezember 2020