Immer wenn ich lese oder höre, bei einem Tatverdächtigen oder einem Angeklagten gelte die Unschuldsvermutung, beschleicht mich ein ungutes Gefühl, vor allem wenn jemand bei frischer Tat ertappt wurde oder gar geständig war. Seit einigen Jahren wird dies Wort geradezu gebetsmühlenartig hergesagt, als besondere Form der Korrektheit. Mein Zweifel gilt nicht der Sache. Denn selbstverständlich soll niemand öffentlich als schuldig behandelt werden, solange er nicht rechtskräftig verurteilt ist. Der Zweifel setzt an bei dem Wort Vermutung.
Von Prof. Dr. Horst Haider Munske
Was, fragen wir, wird vermutet? Was ist Gegenstand einer Vermutung? Und was hat es mit der Unschuld auf sich? Passen diese beiden Wörter vielleicht schlecht zusammen?
Wir suchen in den Wörterbüchern nach Bedeutungsangaben und nach Beispielen und beginnen mit Unschuld. Es ist offenbar ein Antonym, ein gegensätzliches Wort zu Schuld. Durch das Präfix un- wird ein Sachverhalt verneint oder sein Gegenteil bezeichnet wie bei Geduld – Ungeduld, Tiefe – Untiefe, Vermögen – Unvermögen. Unschuld bezeichnet also ‚das Freisein von Schuld‘ (jemand beteuert seine Unschuld, er wurde wegen erwiesener Unschuld freigesprochen). Daraus leiten sich auch die übertragenen Bedeutungen ‚unschuldiges Wesen‘ (die Unschuld vom Lande) und ‚Unberührtheit, Jungfräulichkeit‘ (die Unschuld verlieren) ab. Im Falle der Unschuldsvermutung geht es also um eine Schuld, derer jemand angeklagt ist, die aber noch nicht erwiesen ist.
Die Frage ist: Kann man auch eine Unschuld vermuten? Welches ist die genaue Bedeutung des Wortes Vermutung? Der zehnbändige Duden gibt eine lange Definition: „auf Grund bestimmter Anzeichen der Meinung sein, dass sich etwas in bestimmter Weise verhält“, zum Beispiel, dass jemand krank ist, dass jemand etwas gestohlen hat, dass das Wetter umschlägt. Immer sind es Sachverhalte, für die es Indizien gibt. Meist sind es eher negative Dinge, die vermutet werden. Damit kommen wir dem Zweifel auf die Spur. Es gibt Anzeichen für eine Schuld, darum die Anklage, aber auch für die Unschuld? Nein. Hier geht es nur darum, dass noch kein Schuldspruch erfolgt ist, also um das Fehlen erwiesener Schuld. Die Unschuld ist eine juristische Annahme. Man spräche eben besser von der Annahme der Unschuld wie englisch presumption of innocence. Ist gar die Unschuldsvermutung nur eine halbgare Übersetzung aus dem Englischen? Offenbar haben sich die Juristen dies Wort ausgedacht, denn wo sonst als im Rechtsverkehr gibt es die Unschuldsvermutung?
Gleichwohl beginnen wir uns langsam an diesen Ausdruck zu gewöhnen und seine gewisse semantische Schiefheit zu akzeptieren – hoffend, dass auch uns bei unseren kleinen Vergehen einmal Unschuld unterstellt wird, solange nichts bewiesen ist.
Der Autor ist Professor für Germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Vereins Deutsche Sprache e.V.
Quelle: Verein Deutsche Sprache vom 4. Juli 2021