Bei interreligiösen Diskursen und sogar in der Religionswissenschaft ist die Interpretation von Abraham als ein gemeinsamer Nenner von Juden, Christen und Muslimen in Mode gekommen. So wird bei Tagungen und in Publikationen von den drei „abrahamitischen Religionen“ gesprochen. Diese gingen alle auf Abraham zurück und hätten unter verschiedenen Religionsgesetzen den Glauben an den einen, selben Gott bewahrt. Judentum, Christentum und Islam seien daher im Innersten miteinander verwandt und auf Geschwisterlichkeit angelegt, so die Behauptung.
Von Heinz Gstrein, Orientalist
Für Juden und Christen ist das sicher richtig. Das abrahamitische Konzept eines monotheistischen Religionsfriedens gilt aber nicht für Muslime. In der Praxis hat das eben erst im März eine Grossveranstaltung in der überlieferten Heimat Abrahams gezeigt, beim Besuch des Papstes im heute irakischen „Ur in Chaldäa“. Dort trafen sich Christen, Muslime und kleinere orientalische Religionen, deren Monotheismus aber in Frage steht, zu einem gemeinsamen Friedensgebet. Die Juden als direkte und eigentlichste Kinder Abrahams waren jedoch nicht vertreten.
Dabei hatte das babylonische Judentum seit seinem biblischen Exil eine wichtige Rolle gespielt. In nachchristlicher Zeit wurde der „babylonische“ sogar noch wichtiger als der „palästinensische“ Talmud, das Schrifttum der Rabbiner zur Bibel. Die Juden hielten sich im Zweistromland auch unter arabischen Kalifen und osmanischen Sultanen auf, bis für sie wie anderswo mit dem Zweiten Weltkrieg ihre Vernichtung einsetzte: Den Anfang machte im Frühsommer 1941, als Hitler vorübergehend auch den Irak als Verbündeten gewonnen hatte, das Bagdader Judenpogrom „Farhud“. Verschiedene nationalarabische Regimes bis hin zu Saddam Hussein sorgten schliesslich bis heute dafür, dass von Hunderttausenden irakischen Juden nur mehr eine Handvoll übriggeblieben sind. Doch auch von diesen konnte sich kein einziger beim Papst in Ur einfinden oder wurde von den Muslimveranstaltern erst gar nicht eingeladen …
Abraham ist nicht gleich Ibrahim
Kein Wunder, denn für den Islam ist der Abraham, den der Koran Ibrahim nennt, ganz und gar nicht mit dem Abraham der Bibel identisch. Er wird in keinem Zusammenhang mit Juden und Christen, sondern als eingottgläubiger „Heide“ gesehen und als erster Muslim in Anspruch genommen. In Koransuren 3, 4 und 6 kommt das ganz deutlich zum Ausdruck. Mit Sure 2 erhebt Mohammed sogar den Anspruch, der einzige legitime Nachkomme Abrahams zu sein.
Auch sonst wurde im Koran der biblische Bericht von Abraham und Isaak umgeschrieben: Der Gott der Muslime, Allah, stellte den Glauben Ibrahims auf die Probe, indem er ihn aufforderte, seinen ihm von der Sklavin Hagar geborenen Sohn Ismail zu opfern. Es wird also nicht wie im Juden- und Christentum der Sohn der Verheissung, Isaak, zum Opfer auserwählt, sondern Ismail, der Sohn der Sklavin. Ibrahim hätte dann mit Hilfe Ismails das Heiligtum der Kaaba zu Mekka gebaut. Das Opfer Ibrahims wird zum Vorbild des rituellen Opfers am grossen Bairamfest, besonders zur Zeit der Wallfahrt nach Mekka.
Darüber hinaus legt der Islam Abraham/Ibrahim eine Zurückweisung der Ansprüche von Juden und Christen in den Mund, die wahre Religion zu besitzen. Von einer „abrahamitischen“ Zusammengehörigkeit kann daher aus islamischer Sicht keine Rede sein. Sie existiert nur in interreligiösen Wunschvorstellungen oder bei islamischen „Tarnorganisationen“ wie dem saudi-arabischen „Dialog“-Zentrum KAICIID („König Abdallah-bin-Abdul-Aziz-Zentrum für interreligiösen und interkulturellen Dialog“), das bis vor kurzem in Wien ansässig war, von Anfang an äusserst umstritten war und nun aus Wien „hinausdemonstriert“ wurde. Bereits 2020 gab es Gerüchte über eine Verlegung des Zentrums nach Genf. Das Schweizer Aussenministerium bestätigte damals, dass es die Verlegung prüfe. In der Schweiz sollte es aber hoffentlich genauso wenig einen Platz finden wie Minarett und Burka.
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