Als „Zu schön, um wahr zu sein“ wurde in Afghanistan die erste Beschwichtigungs-Pressekonferenz der Taliban im verwaisten Präsidentenpalast von Kabul gewertet. So von der „Nationalen Widerstandsfront“ (FNR), die sich im Pandschir-Tal um den gleichnamigen Sohn des legendären „Kriegsherren“ Ahmad Massud sammelt. Sie verwies darauf, dass die Taliban ungeachtet ihrer „Versöhnungsbotschaft“ und des Stillhaltens in Kabul vor den Augen der Welt in Provinzen bereits gegen Andersdenkende vorgehen und aus den wieder geöffneten Ämtern die weiblichen Angestellten nach Hause verbannen. Inzwischen liegt völlig auf der Hand, dass sich die neuen Herren Afghanistans nur der bewährten islamischen Taktik der Takija bedienen, der Täuschung aller Nicht-Muslime über ihre wirklichen Absichten. Inzwischen berichtet aus Genf das Hochkommissariat der Vereinigten Nationen für die Menschenrechte schon von Massenhinrichtungen und wachsender Beschränkung der Bewegungsfreiheit von Frauen in afghanischen Provinzen.
Von Heinz Gstrein, Orientalist
Anderswo scheinen schwer bewaffnete Taliban-Kämpfer, die in eroberten Vergnügungsparks mit geradezu kindlicher Freude Autodroms und Achterbahnen probieren, dem Aushängbild von einer freundlichen zweiten Generation der Bewegung zu entsprechen, die in den 1990er-Jahren ganz Afghanistan in Schrecken versetzt hatte. An diesen Wandel glauben wollen vorgeblich auch Russland und China, die durch Paktieren mit den politislamischen Rückkehrern nach Kabul dem Westen gegenüber Punkte gewinnen wollen.
Andererseits darf ein tatsächlicher Rückhalt der Taliban bei der Landbevölkerung nicht unterschätzt werden. Das gilt in entlegenen, schwer erreichbaren Gebieten mit vorherrschenden Stammesstrukturen stärker als für die städtische Bevölkerung. Die Taliban profitieren auch von der Tatsache, dass Afghanistan als „Durchzugsland“ zwischen Europa und Asien stets umkämpft war und sein Volk in Folge hohen Widerstand gegen Fremdherrschaften sowie eine kulturell-ethnische Eigenständigkeit ausgeprägt hat. Beides hat sich während der vergangenen 20 Jahre der US-Präsenz und des versuchten Aufbaus eines islamischen, doch demokratischen Afghanistans durch einseitige Konzentration auf die „städtischen Eliten“ noch verstärkt. Dass der Zusammenbruch der vom Westen geschaffenen Strukturen jetzt so schnell gehen konnte, lässt sich nur durch den starken Rückhalt der Taliban in der ländlichen Bevölkerung und die gleichzeitige allgemeine Abneigung gegen eine oktroyierte Fremdherrschaft erklären.
Auch unterschied sich die US-etablierte demokratische „Islamische Republik“ nicht fortschrittlich genug vom radikalen Taliban-Islam, um das Volk für ihre Sache zu begeistern. Der Abzug der NATO-Truppen führte in diesem Sommer sofort in die Katastrophe. Die afghanischen Kommunisten, als Befreier von Frauen und „Badsch“-Kindersklaven sowie im Bildungs- und Gesundheitswesen verdienstvoll, hatten sich einst nach dem Abzug der Roten Armee 1989 noch ganze drei Jahre unter Mohammed Nadschibullah gehalten.
Zwischen 2001 und 2021 wurden hingegen ausserhalb der städtischen Zentren, wo sich westliche Werte und Praktiken durchsetzten, weiter Frauen mit spätestens 18 Jahren oder noch jünger mit oft erheblich älteren Männern verheiratet, bekamen zahlreiche Kinder und verbluteten zum Teil nicht selten irgendwann an einer Fehlgeburt. Dann kam einfach das nächste Mädchen an der Reihe …Aus der Ganzkörper-Burka mit einem Stoffgitter vor dem Gesicht kamen sie praktisch nie heraus. Die Taliban hatten in den 1990er-Jahren diese für ganz Afghanistan vorschrieben, unter dem prowestlichen Regime hatte sich daran in der Praxis nichts mehr geändert. Nach dem seit 2009 unter NATO-Präsenz geltenden „Gesetz zur Regelung des Familienlebens“ durften Frauen ohne männliche Erlaubnis nicht auf die Strasse. Und die letzte „Errungenschaft“ des Präsidenten Aschraf Ghani vor seiner Flucht war es, Mädchen über zwölf Jahren das Singen und Musizieren in Anwesenheit von Männern zu verbieten …
Nicht besser sah es im „demokratischen“ Afghanistan für die Lage der Nicht-Muslime aus. Ein letzter Jude verblieb noch im Schutt der alten Synagoge von Kabul aus Königszeiten. Bekehrungen zum Christentum gab es keine mehr, seit 2010 Regierungsvertreter neugetaufte Muslime mit dem Tod bedroht und der damalige Präsident Karzai darauf die Staatspolizei angewiesen hatte, weitere Übertritte zu „verhindern“. Die einzigen Kirchen gab es seitdem in NATO-Stützpunkten. Jetzt allein in der italienischen Botschaft. Dorthin kommen die Kabuler Jesuiten und drei kleine Schwesternschaften aus Privathäusern, aber auch die evangelischen „Christusträger“ aus Triefenstein am Main. Ihre Bruderschaft unterhält in Kabul zwei kleine Kliniken für Lepra- und Tuberkulosekranke und eine Werkstatt zur technischen Unterstützung der Hospitäler der Stadt – das schon seit 1969, weder die Russen noch antisowjetische Mudschaheddin oder dann die Taliban haben sie zu vertreiben vermocht.
Die Taliban stehen ihrer Lehre nach auf dem Boden der indisch-islamischen Deobandi-Richtung, einer Gegenströmung zum europäischen Kolonialismus und der westliche Moderne. Während aber andere islamischen Reformbewegungen auf Modernisierung und Öffnung gesetzt haben, betrieb die Deobandi-Bewegung eine betont konservative, strenge Auslegung des Islam, verbunden mit einer ethnisch-nationalen Aufladung. Auch wenn die Taliban v.a. national begrenzt agieren, stellen sie für Europa und die restliche Welt ein beängstigendes Problem dar. Dieses liegt in einer Gefährdung des Weltfriedens wie damals, als sich in Afghanistan das globale Terrornetz von Bin Ladens Al-Qaida eingenistet hatte. Eine ganze junge Generation in der Muslim-Welt hält jetzt dem im Irak und Syrien bankrott gegangenen „Islamischen Staat“ (IS) weiter die Stange. Dieser globalen dschihadistischen Bewegung käme es nur gelegen, nach dem Sieg der afghanischen Taliban international gemeinsame Sache zu machen …