Unsere Identität wird stark durch unsere Gewohnheiten bestimmt und umgekehrt. Mit jeder Handlung stimmen wir darüber ab, welche Art Mensch wir werden wollen.
Von Benjamin Aepli und Ralph Studer
Das ist ja nur eine Kleinigkeit … das ist ja nur heute … dieses eine Mal ist ja nicht so entscheidend.“ Solche und ähnliche Ausreden verwenden wir, wenn wir diese oder jene Ausnahme von unseren Vorsätzen machen. Dabei unterschätzen wir gerne die Macht der kleinen Gewohnheiten des gegenwärtigen Augenblicks. Bereits der bekannte Dominikaner Thomas von Aquin sah in der guten Gewohnheit eine Tugend – ein Begriff, der in der heutigen Zeit zu Unrecht verpönt ist. Denn was braucht unsere Gesellschaft dringender als tugendhafte Menschen mit guten Gewohnheiten, die zu Persönlichkeiten heranreifen und sich für den Nächsten und das Gemeinwohl einsetzen? Gute Gewohnheiten entstehen jedoch nicht auf Knopfdruck, sondern sind das Ergebnis täglicher kleiner Siege durch Willensanstrengung und Selbstüberwindung.
Gewohnheit und Identität
Stellen wir uns vor, wie zwei Personen das Angebot einer Zigarette ablehnen. Die erste Person sagt: „Nein, danke. Ich versuche aufzuhören.“ Zwar erscheint die Antwort vernünftig, jedoch sieht sich diese Person immer noch als Raucher. Sie hofft, dass sich ihr Verhalten ändern wird, obwohl ihre Überzeugung gleich geblieben ist. Die zweite Person hingegen sagt: „Nein, danke. Ich bin Nichtraucher.“ Das ist nur ein kleiner Unterschied, doch zeigt diese Aussage, dass sich die Identität geändert hat. Bei dieser Person ist das Rauchen Teil des früheren Lebens, jedoch nicht des jetzigen. Sie sieht sich nicht mehr als Raucher.
Ist die Gewohnheit ein Teil der eigenen Identität, dann ist die Motivation für das Erlernen eines neuen Verhaltens auch viel einfacher. Es sagt sich sehr leicht, dass man etwas gerne möchte, aber es ist etwas ganz anderes, wenn man sagt: „So bin ich.“ Eine echte Verhaltensänderung ist eine Änderung der Identität. Verbesserungen bleiben so lange vorübergehend, bis sie Teil unseres eigenen Selbst werden.
Das Verändern unseres Selbstbildes
Wenn wir die guten Tätigkeiten wiederholen, mehren sich die Beweise und unser Selbstbild verändert sich allmählich. Wir entwickeln uns Schritt für Schritt, Gewohnheit für Gewohnheit, zu dem Menschen, der wir werden möchten. Wer wir sind, können wir am einfachsten ändern, wenn wir ändern, was wir tun: Immer, wenn wir mit dem Training starten, sind wir Sportler. Immer, wenn wir unser Instrument spielen, sind wir Musiker.
Neue Identitäten erfordern neue Beweise. Wenn wir uns aber immer wieder gleich verhalten, bekommen wir auch immer die gleichen Ergebnisse. Wenn wir nichts ändern, wird sich nichts ändern. Damit wir uns tatsächlich verändern, braucht es zwei Schritte: Erstens unseren persönlichen Entscheid, was für ein Mensch wir werden wollen, und zweitens kleine Siege, welche unsere neue Identität untermauern.
Zunächst also müssen wir uns entscheiden, wer wir sein möchten. Wofür wollen wir stehen? Welche Prinzipien und Werte haben wir? Wer möchten wir werden? Schlussfolgerungen in diesem Prozess könnten z.B. sein: „Ich bin der Vater, der seine Kinder ermutigt, sie fördert und ihnen ein starkes Gegenüber ist.“ Oder: „Ich bin die Mutter, die ihre Kinder mit Hingabe liebt, sie tröstet und ihre Herzen erwärmt.“ Oder auch: „Ich bin der Vorgesetzte, der sich für seine Mitarbeiter einsetzt und ein offenes Ohr hat.“ Sobald wir die Art Mensch ermittelt haben, folgen die kleinen Schritte in Richtung dieser neuen Identität, wobei wir uns stets fragen sollten, wie sich eine Person mit dieser Identität im jeweiligen Augenblick verhalten würde.
Unser Menschsein soll von Werten (Liebe, Vertrauen usw.), Prinzipien und unserer Identität bestimmt werden und nicht von Ergebnissen. Der Schwerpunkt in all unserem Handeln sollte stets darin bestehen, eine bestimme Art von Mensch zu werden, und nicht darin, ein bestimmtes Ergebnis zu erzielen. Unsere Gewohnheiten bestimmen letztlich, wer wir sind
Wie können wir unsere Gewohnheiten ändern?
Generell gilt: Je mehr man übt, desto seltener werden nutzlose Handlungen, während sich sinnvolle verstärken. So bildet sich eine Gewohnheit heraus. Gewohnheiten schränken unsere Freiheit nicht ein, sondern fördern diese sogar. So sind Menschen, die zu wenig gute Gewohnheiten im Leben haben, oft am wenigsten frei, weil sie sich von ihren Leidenschaften beherrschen lassen. Der Aufbau neuer Gewohnheiten lässt sich in vier Phasen unterteilen: Auslösereiz, Verlangen, Reaktion und Belohnung. Zentral ist, dass jede Gewohnheit diese vier genannten Phasen durchläuft. Der Auslösereiz veranlasst unser Gehirn, ein Verhalten auszulösen. Es handelt sich dabei um eine Information, die eine Belohnung in Aussicht stellt. Der Auslösereiz ist das erste Anzeichen dafür, dass eine Belohnung unmittelbar bevorstehen könnte, und ruft deshalb natürlich ein Verlangen hervor. Verlangen ist der zweite Schritt und bildet die Motivation hinter jeder Gewohnheit. Ohne ein gewisses Mass an Motivation oder Willen sehen wir keinen Anlass zum Handeln. Man verlangt nicht nach der Gewohnheit, sondern nach der Veränderung des Zustands, die sie bewirkt. Ein Raucher sehnt sich z.B. nicht danach, eine Zigarette zu rauchen, sondern nach dem Gefühl der Erleichterung, das sie verspricht. Jedes Verlangen hängt mit dem Wunsch zusammen, den inneren Zustand zu verändern. Der dritte Schritt ist die Reaktion. Ob eine Reaktion auftritt, hängt davon ab, wie motiviert wir sind und wie viel Aufwand mit dem Verhalten verbunden ist. Schliesslich führt die Reaktion zu einer Belohnung. Belohnungen sind das eigentliche Ziel jeder Gewohnheit. Diese vier Phasen laufen ständig in unserem Leben ab.
Tipps für neue Gewohnheiten
Studien zeigen, dass Motivation und Wissen um den Wert eines Verhaltens unser Verhalten nicht verändern können. Um eine neue Gewohnheit in unseren Alltag einzubauen, brauchen wir als Auslösereiz eine genaue Absicht betreffend Zeit und Ort: „Wenn Situation X eintritt, führe ich Reaktion Y aus.“ Wenn wir uns vornehmen, täglich zu joggen, wird der Vorsatz höchstwahrscheinlich scheitern. Anders jedoch, wenn wir einen genauen Plan haben: „Jeden Morgen nach dem Aufstehen gehe ich im Wald joggen.“ Wer das Wann und Wo der neuen Gewohnheit konkret plant, setzt sie eher um. Die vermeintlich fehlende Motivation ist in Wirklichkeit oft ein Mangel an Klarheit. Dabei hilft es, wenn wir die neue Gewohnheit an eine bestehende koppeln: „Nach (aktuelle Gewohnheit) werde ich (neue Gewohnheit) …“ Man kann dazu eine Liste aktueller Gewohnheiten erstellen und sich überlegen, woran man die neue Gewohnheit anknüpfen kann. So wird eine bestehende Gewohnheit zum Auslösereiz für die neue Gewohnheit. Der Vorsatz könnte dann entsprechend lauten: „Direkt nachdem ich aufgestanden bin, ziehe ich meine Sportschuhe an und gehe joggen.“
Weitere Faktoren, die unsere Gewohnheiten entscheidend positiv lenken, sind z.B. unser Umfeld und unsere Tagesstruktur, regelmässiger Austausch mit einem Rechenschaftspartner sowie unsere eigene schriftliche Reflexion in einem Tagebuch. Eine neue Gewohnheit sollte zudem, wenigstens zu Beginn, möglichst einfach umzusetzen sein (z.B. 10 Minuten Joggen statt gleich 30 Minuten). Zu Beginn sollte der Fokus nicht auf der Dauer liegen, sondern auf der Einübung der Routine.
Das Fazit: Wir Menschen sind frei und doch oft durch schlechte Gewohnheiten von unserem Potenzial weit entfernt. Freiheit und Verantwortung für unser Leben zu übernehmen, heisst, sich bewusst für das Gute in unserem Leben zu entscheiden. In Krisenzeiten wie der aktuellen kann dies entscheidender denn je für unser weiteres Leben sein.