Krieg und Krise in der Ukraine sind nur mit der „Wende“ des europäischen und weltpolitischen Schicksalsjahres 1989 zu vergleichen, urteilt schon jetzt der französische Strategie- und Sicherheitsexperte François Heisbourg: Die Ukraine sei nie den Russen richtig durch den damals zusammengebrochenen Eisernen Vorhang entschlüpft. Vladimir Putin hingegen habe von seiner lang unterschätzten stillen Machtergreifung 1999 an auf ein Wiedererstehen des russischen Imperiums im Geist von Zarismus und orthodoxer Kirchenvormacht hingearbeitet. Heisbourg warnt daher den Westen auch davor, Putins atomare Drohgebärden auf die leichte Schulter zu nehmen: Der Kremlchef sei genauso unberechenbar wie am Golf die iranischen Ayatollahs mit ihren Nuklearprogrammen.
Von Heinz Gstrein
Inzwischen haben die ersten ukrainisch-russischen Verhandlungen auf dem Boden von Belarus nach dem Überfall von Vladimir Putin auf die ehemalige, seit 1991 nie ganz unabhängige Sowjetrepublik klar gezeigt, dass Moskau erneut Kiew zu seinem erklärten Satellitenstaat degradieren will. Das war schon gemeint, als die Russen bei Beginn ihres Angriffs am 25. Februar 2022 von einer Entnazifizierung des Landes am Dnjepr sprachen. Damit hat sich in Russlands postkommunistischer Sprachregelung nichts seit 1944/45 geändert, als alle ukrainischen Befürworter staatlicher und kirchlicher Unabhängigkeit vom Kreml unter dem Sammelbegriff von „Nationalsozialisten“ verfolgt und liquidiert wurden.
Neue Bevormundung der ukrainischen Kirchen durch das Moskauer Patriarchat
Dass ein wesentliches Ziel der jetzigen Invasion neben ihren militärischen und politisch-wirtschaftlichen Vorhaben auch neue Bevormundung der zwischen 1990 und 2019 frei gewordenen ukrainischen Kirchen durch das Moskauer Patriarchat darstellt, ging schon von Anfang an aus vertraulichen Informationen an das Ökumenische Patriarchat der Orthodoxie in Istanbul sowie – die Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche betreffend – an den Vatikan hervor. Erst jetzt hat aber ein Sprecher der moskaufreien „Autokephalen Orthodoxen Kirche der Ukraine“ in der ersten Märznummer der Wochenzeitung für die griechische US-Diaspora, „Ethnikos Kiryx/National Herald“, die russischen Pläne öffentlich aufgedeckt. Erzbischof Efstratij Zora von Chernihiv (Chernigov) bezeichnet den neuerlichen Anschluss der autokephalen Orthodoxen Kirche in der Ukraine, aber auch der ukrainischen Ostkatholiken – wie das von 1946 bis 1990 der Fall war – als kirchenpolitisches Hauptziel von Putins Expansion in die Ukraine. Er habe zwar nicht vorausgesehen, dass dort sein Einmarsch die bisher noch fast 40-prozentige Anhängerschaft der Moskauer Orthodoxie zusammenschrumpfen lässt, wie das jetzt der Fall ist. Doch auch in den 1950er- bis 1980er- Jahren sei die damals schon unpopuläre russische Orthodoxie mit Verhaftungen und Straflagern durchgesetzt worden. Dafür gebe es auch jetzt erste Anzeichen. So hätten es Putins Sonderkommandos und Geheimpolizei schon darauf abgesehen, den Oberhirten der Autokephalen Kirche, Metropolit Epifanij Dumenko, in ihre Gewalt zu bekommen. Er befinde sich daher an einem geheimen, sicheren Ort.
Die Macht berauscht
„Putin glaubt, der Zar von heute zu sein“, erklärte ein orthodoxer Bischof, der ihn schon lang kennt, aber selbst aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden will: „Die Macht berauscht. Grosse absolute Herrschaft verblendet die Augen mit ihrer Stärke, und du vergisst, nur ein Mensch zu sein. Es ist unmöglich, dein Kreuzzeichen zu machen und zu Gott zu beten, wenn du im gleichen Augenblick Kinder und überhaupt Menschen tötest. Das lässt sich nicht miteinander vereinbaren.“
Der Bischof, der Jahrzehnte als Vertreter seiner Kirche beim Moskauer Patriarchat verbracht hat, spielt damit auf das tägliche Morgengebet Putins in der Dreifaltigkeitskirche auf den Sperlingsbergen an, ehe er weiter in den Kreml zu seinen Amtsgeschäften fährt. Der orthodoxe Kirchenmann kennt sowohl das sowjetische und postkommunistische Russland wie auch Wladimir Putin persönlich. Er sei sich durchaus einer Frömmigkeit Putins bewusst. „All das ist aber bei solchen Menschen hinter nur einem Interesse und einem Wagemut zurückgetreten, die im Endeffekt zu nichts Gutem führen.‟ Der Bischof hätte zwar mit dem Einfall Putins in die Ukraine gerechnet, weil immer „die Macht des Stärkeren“ vorausgeht. Dieser vergesse aber, nur ein Mensch zu sein, der nicht mehr als einen Streifen Land gewinnen könne und ein Sterbehemd, um seine letzte Reise anzutreten.
Orthodoxen verurteilen russische Invasion
Er stellte klar, dass fast alle Orthodoxen die russische Invasion in die Ukraine sofort verurteilt haben. „In der Ukraine habe ich zehn Jahre gelebt, dieses Volk kennen und richtig lieben gelernt. Deshalb empfinde ich jetzt doppelten Schmerz. Wie oft war ich zwischen Odessa, Charkiw und Kiew unterwegs! Und weil ich dieses herrliche Volk kenne, habe ich den Krieg zwischen zwei orthodoxen Nationen von Anfang an zurückgewiesen. Es ist so bitter, wenn die Interessen der Grossen, der Oligarchen Tausende von Menschen in diese Katastrophe gestürzt haben. Ich sehe vor allem die ängstlichen Augen der kleinen Kinder vor mir. Stadtviertel, durch die ich gegangen bin, die ich kannte und liebte – wie viele von ihnen liegen schon in Schutt und Trümmern?“
Der Bischof rühmt die Ukrainer als tapferes Volk: „Sie haben das unter schrecklichen Umständen im Zweiten Weltkrieg bewiesen. Sie sind eine mutige Nation, aber auch eine, die niemanden angreift. Die Ukrainer wollen nur überleben. Sie sind ein stolzes, würdevolles Volk, das seine Armut nicht hervorkehrt. Sie sind Patrioten, die ihre Heimat verteidigen, sogar wenn der letzte Ukrainer dafür sein Blut und Leben geben muss.“