Der Zusammenbruch des afghanischen Regimes und die Wiedererlangung der Macht durch die Taliban hat viele Politiker, Analysten und Kommentatoren schockiert. Nach 20 Jahren erheblicher Anstrengungen scheint das Land nicht in die Form der liberalen Demokratie passen zu wollen. Der Westen muss sich wieder einmal der Tatsache stellen, dass die muslimische Welt nach ihren eigenen Regeln funktioniert.
Dr. Lukas Wick
Diese Regeln widersetzen sich sozioökonomischen Mustern und entziehen sich sorgfältig konstruierten politischen Theorien. Obwohl die meisten islamisch geprägten Länder heute auf einer Verfassung basieren, hat der Zweck dieser Texte wenig mit den politischen Werten des säkularisierten Westens zu tun. Zehn Jahre nach dem Beginn des Arabischen Frühlings, der so viele Hoffnungen geweckt hatte, scheint das politische Modell eines Rechtsstaates, der Grundrechte wie Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit und gleiche Rechte für Männer und Frauen, Gläubige und Nichtgläubige garantiert, noch weit von den grossspurigen Erklärungen entfernt zu sein. Entgegen den Vorhersagen unserer Analytiker ist die muslimische Welt islamischer geworden, was unsere Eliten, denen heute jegliche religiöse Überzeugung fremd ist, in Verlegenheit bringt.
Das Haus des Islam und des Krieges
Die islamische Theologie bietet jedoch einen interessanten (allerdings selten beachteten) Schlüssel zur Erklärung dieser Entwicklung und zum besseren Verständnis der Dynamik der muslimischen Welt. Der Islam hat von Beginn an eine Weltanschauung vertreten, die Menschen aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit und ihres Geschlechts diskriminiert. So gibt es das Haus des Islam (dar al-islam) und das Haus des Krieges (dar al-harb). Und nach diesem Prinzip wird die Welt bis zum angestrebten Endsieg des Islam eingeteilt. Wir müssen also feststellen, dass der Islam Nicht-Muslime nicht als gleichwertig zu Muslimen betrachtet. Da laut islamischer Auslegung die eigentliche Natur jedes Menschen von Geburt an muslimischen Ursprungs ist (was als „fitra“, d.h. „Natur, Veranlagung“, bezeichnet wird), ist jeder Nicht-Muslim kein Mensch im vollen Sinne des Wortes. Vielmehr wird er als unreifes Wesen betrachtet, das die islamische Offenbarung braucht. Was eine unbedeutende theologische Laune zu sein scheint, hatte in der Geschichte weitreichende Folgen und prägt bis heute das Bewusstsein der Muslime, zumal das Verfassungsmodell für die oben genannten Freiheiten in Ländern mit christlicher Tradition entstanden ist. Wie hätten also dieser Auslegung nach als unreife Wesen betrachtete Menschen ein politisches Modell zur Nachahmung schaffen können?
Die Ansprüche des Islams
In letzter Zeit wird diese Überzeugung noch dadurch untermauert, dass das angeblich christliche Abendland seine unantastbaren Prinzipien der Menschenrechte regelmässig verrät, indem es autoritäre Regimes unterstützt und Ideologien wie z.B. die Gender-Theorie propagiert.
Die Etablierung des Rechtsstaats im europäischen Kontext war sicherlich das Ergebnis eines langen Kampfes, um die unglückliche Verquickung von Monarchie und Kirche zu lösen. Die Trennung von politischer Macht und Kirche ist jedoch Teil der DNA des Christentums, und eine Rückbesinnung auf die Ursprünge hat die historischen Entwicklungen relativiert. Der normative Charakter der Ursprünge des Islam, der eine Einheit zwischen politischer und religiöser Macht befürwortet, macht die Anpassung an dieses Verfassungsmodell jedoch sehr viel komplizierter. Die muslimische Welt bleibt unverständlich, wenn man die Ansprüche des Islam und seine Vorstellungen von Gesellschaft und Politik nicht ernst nimmt. Eine Analyse, die sich ausschliesslich auf sozioökonomische Aspekte konzentriert, geht weit an der Realität vorbei und läuft Gefahr, das Thema zu verfehlen.
Dr. Lukas Wick, Publizist, studierte arabische Literatur, Islamwissenschaft und Philosophie in Genf mit Studienaufenthalten in Moskau, Syrien und im Libanon.