Es waren emotionale Szenen, die sich am Freitag, dem 24. Juni 2022, in den USA abspielten: Lebensschützer lagen sich weinend vor Freude in den Armen, nachdem der Oberste Gerichtshof das Grundsatzurteil „Roe vs. Wade“ aus dem Jahr 1973 gekippt hatte. Damit wird die Kompetenz zur rechtlichen Regelung von Abtreibung nach fast einem halben Jahrhundert in die Verantwortung der einzelnen Bundesstaaten zurückgegeben.
Von Ursula Baumgartner
„Roe vs. Wade“ erlaubte einen Schwangerschaftsabbruch bis zur 24. Woche aus nahezu jedem Grund, danach unter der Bedingung, dass das Leben oder die Gesundheit der Schwangeren durch die Fortführung der Schwangerschaft gefährdet würde. Seit Freitag ist diese Entscheidung wieder Sache der einzelnen Bundesstaaten. In 26 Bundesstaaten wird nun ein Abtreibungsverbot erwartet oder ist bereits auf den Weg gebracht.
Die Reaktionen von verschiedenen Seiten könnten unterschiedlicher kaum ausfallen. Während die Republikaner und zahlreiche Lebensschutzorganisationen darüber jubeln, dass dank der neuen Regelung unzählige Ungeborene gerettet werden können, sprechen Demokraten und verschiedene Gruppierungen von einem Schlag gegen die „Rechte von Frauen“. Nancy Pelosi, die Sprecherin des Repräsentantenhauses, fürchtet, die Entscheidung von Freitag sei erst der Anfang einer ganzen Reihe weiterer unerwünschter Veränderungen.
Europas Marsch in die entgegengesetzte Richtung
Auch im weit davon entfernten Deutschland machen sich Politiker von CDU und AfD sowie mehrere Bischöfe Sorgen um ungute Entwicklungen. Allerdings beziehen sie sich auf eine andere Entscheidung vom 24. Juni 2022, die ebenfalls die Abtreibung betrifft. Der Deutsche Bundestag schaffte am vergangenen Freitag den Strafrechtsparagraphen 219a ab, welcher es Ärzten bisher verbot, für Schwangerschaftsabbrüche zu werben. Lisa Paus von den Grünen feierte den Entscheid als „Triumph“, der die Selbstbestimmung von Frauen stärke und dafür sorge, dass ungewollt Schwangere nun „sachkundig beraten und gut unterstützt“ würden. Als Bundesfamilienministerin sollte sie zwar wissen, dass Schwangeren auch bisher das Fragen eines Arztes nicht verwehrt wurde und dass jeder Gynäkologe und jeder Konfliktberater in einem Gespräch Auskunft über den Ablauf einer Abtreibung geben und entsprechende Adressen vermitteln durfte. Aber vermutlich stimmt sie Bundesjustizminister Marco Buschmann von der FDP zu, der den Paragraphen als „aus der Zeit gefallen“ betrachtet, weil Ärzten das Informieren im Internet verboten war, während sich „jeder Troll und jeder Verschwörungstheoretiker“ dort äussern durfte. Es ist davon auszugehen, dass Buschmann die meisten „Trolle“ im Bereich der Lebensschützer verortet.
Trolle und Verschwörungstheoretiker
Und welche Befürchtungen könnten Verschwörungstheoretiker haben? Nun, vielleicht diese, dass die Streichung von 219a nur ein Dammbruch ist, der als Folge auch die Streichung von Paragraph 218 nach sich zieht. Dieser regelt die Straffreiheit von Abtreibungen in den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft. Eine Streichung käme der Freigabe der Abtreibung gleich. Man könnte sich auch zu der natürlich völlig absurden Behauptung versteigen, die deutsche „Ampel-Koalition“ wolle über kurz oder lang Abtreibungen unter völlig normale medizinische Behandlungen einreihen, die jeder Medizinstudent lernen muss und deren Kosten von den Krankenkassen getragen werden müssen.
Doch halt: Dies sind keine Verschwörungstheorien. Carmen Wegge, Berichterstatterin der SPD-Bundestagsfraktion, und Dörte Frank-Boegner, Vorsitzende des pro-familia-Bundesverbands, kündigten genau dies in verschiedenen Interviews bereits an. Viel Raum bleibt Verschwörungstheoretikern also gar nicht mehr.
Selten schlug das Pendel „Abtreibung“ global gleichzeitig weiter in verschiedene Richtungen aus. Betrachtet man die Reaktionen auf die beiden jüngsten Entscheidungen, zeichnet sich jetzt schon klar ab, dass das Thema auch künftig noch viel Zündstoff bereithalten wird.