Werte sind ein heisses Thema, und unsere Werte zu verteidigen, hat heute eine Wichtigkeit bekommen, die sie in den letzten Jahrzehnten nicht immer hatte. Während Werte instinktiv als „was zählt“ verstanden werden, bleibt es schwierig, genau zu definieren, was „unsere Werte“ sind. Die folgenden Überlegungen sollen dabei helfen.
Von Raphael Baeriswyl
Werte steigen nicht umsonst auf der Skala unserer Sorgen. Die westliche Gesellschaft lebte das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts im Vertrauen darauf, dass sich ihre Werte auf den Rest der Menschheit ausbreiten würden. Der technische Fortschritt, der allen einen zuvor undenkbaren Komfort und Lebensqualität eröffnete, vermittelte die Illusion eines moralischen Fortschritts, der durch das blosse Voranschreiten der Zeit garantiert würde. Der Westen sah sich dem Rest der Welt voraus und konnte sich freuen, dass dieser endlich aufholt. 1989 schliesslich lebten die westlichen Staaten in der Gewissheit, dass die Demokratie zur ultimativen Regierungsform geworden war, an der sich fortan alle anderen Länder beteiligen wollten.
Wie wir heute wissen, lief es nicht wie geplant. Noch mehr als die Anschläge vom 11. September 2001 waren die palästinensischen Wahlen von 2006 ein Schock, da sie wider Erwarten zeigten, dass eine Bevölkerung bei einer demokratischen Wahl die Hamas den pro-westlichen Parteien vorzieht. Solche Ereignisse erschütterten das Vertrauen, das der Westen in die Zukunft hatte, und leiteten eine Zeit des Zweifels und der Desorientierung ein, in der wir uns bis heute befinden.
Pandemie, Krieg und gespaltene Gesellschaft
Mit Blick auf die nichtwestliche Welt sind wir erstaunt darüber, dass autoritäre Regime, welche nicht bereit sind, die Rechte des Einzelnen zu achten, dennoch eine grosse Unterstützung in der Bevölkerung geniessen. In den westlichen Ländern werden politische Debatten immer gewaltvoller, postmoderne Verirrungen sind zum Gesetz geworden, der Kommunitarismus, d.h. das Leben in Parallelgesellschaften (insbesondere auf der Grundlage von Herkunft oder Geschlecht), spaltet die Gesellschaft, während die „politische Korrektheit“ die Meinungsfreiheit zu zerfressen droht. In dieser angespannten Situation ist das westliche Individuum verloren, es findet in keiner Gruppe die blinde Solidarität, die durch die kommunitaristischen Strömungen kultiviert wird, deren ständige Feindseligkeit es erleidet. Auch die westliche Gesellschaft als Ganzes ist bestürzt: Vor nur zwei Jahren von einer Pandemie überrascht, stellt sie heute ungläubig fest, dass der konventionelle Krieg auf den europäischen Kontinent zurückgekehrt ist. Wer hätte das vor etwas mehr als 20 Jahren gedacht? Was ist mit der angeblichen moralischen und intellektuellen Überlegenheit einer Gesellschaft, die sich scheinbar so geirrt hat?
Ungeachtet der Herausforderungen, die vor uns liegen, wird das Leben weitergehen, und jeder wird als Individuum in der Gesellschaft die Werte innerlich und nach aussen tragen müssen, die ihm am Herzen liegen. Das war schon immer so. Aber in Krisenzeiten verlagert sich dies von der individuellen auf die kollektive Ebene und angesichts des Krieges stellt sich plötzlich ganz konkret die Frage, für welche kollektiven Werte wir bereit wären, unser Leben und das unserer Kinder aufs Spiel zu setzen. In diesem Sinne ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass unsere westlichen Werte aus dem biblischen Menschenbild stammen. Wenn wir also in einer Welt leben wollen, in der für die Schwächsten gesorgt wird, dürfen wir das Wort nicht ignorieren: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40). Wenn wir in einer Welt leben wollen, in der der Staat seine eigenen Regeln respektiert (und sie nicht willkürlich ändert, um den Menschen zu erdrücken und Gott zu ersetzen), sollten wir darauf achten: „Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört“ (Lk 20,25). Wenn wir in einer Welt leben wollen, die unschuldige Menschen nicht opfert und Schuldige nicht der Rachsucht der Menge ausliefert, sollten wir beachten: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein“ (Joh 8,7).
Ohne diese Worte, die von Jesus stammen und gelebt wurden, hätte es niemals Menschenrechte, einen Säkularismus des Staates bzw. der Rechtsstaatlichkeit und Verfahrensgarantien in Strafverfahren gegeben. Der englische Schriftsteller G.K. Chesterton schrieb vor langer Zeit: „Die moderne Welt ist voll von alten christlichen Tugenden, die verrückt geworden sind“. Aber der Wahnsinn ist heute so gross, dass gute Sprüche ihn nicht in Zaum werden halten können. Die Welt braucht mehr denn je – jenseits jedes Diskurses oder jeder Lektion – das Zeugnis der Christen.