Der Schutz des Lebens zu Beginn und an seinem Ende haben eine Gemeinsamkeit: Beide werden zusehends in Frage gestellt. Sowohl das Schweizer Bundesgericht als auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) vertreten den Standpunkt, dass jeder Mensch selbst bestimmen darf, wie und zu welchem Zeitpunkt er sein Leben beenden will. Damit wird die Verfügungsgewalt des Menschen verabsolutiert. Ist diese Sichtweise mit der menschlichen Würde und Freiheit zu vereinbaren?
Von Ralph Studer
Selbsttötungen mithilfe Dritter sind in der Schweiz in zehn Jahren um mehr als 350 Prozent gestiegen. Betroffen sind vor allem ältere Menschen, besonders Frauen. Während die Zahlen der Selbsttötungen steigen, haben im Jahre 2022 die Kantone Zürich und Wallis entschieden, dass fortan Institutionen mit öffentlichem Auftrag wie beispielsweise Seniorenheime die Sterbehilfe in ihren Räumlichkeiten zulassen müssen.
Während Befürworter der Suizidhilfe das Selbstbestimmungsrecht als Ausdruck der Freiheit sehen, ist gerade dieser Aspekt kritisch zu hinterfragen. Wie frei sind Menschen tatsächlich, die sich mit der Entscheidung der Selbsttötung beschäftigen? Menschen, die unter unsagbaren Schmerzen leiden, die unheilbar krank sind, sich als Last für andere fühlen und dem Druck der Familie und der Gesellschaft ausgesetzt sind? Gerade die Freiheit ist in solchen Situationen eingeschränkt bzw. sogar ausgeschaltet und wird nur allzu oft von einem „Tunnelblick“ überlagert, der, wie der Philosoph und Publizist Josef Bordat es ausdrückt, die „Selbsttötung als einzigen Ausweg“ erkennt. Die Not und das Leid lassen den Betroffenen keinen klaren Gedanken mehr fassen. Von einer freiheitlichen Handlung kann hier kaum die Rede sein, vielmehr von einem Akt der Verzweiflung und Ausweglosigkeit.
Lebensbejahende Rechtsordnung
Unsere Rechtsordnung steht in der christlich-abendländischen Tradition auf dem Fundament des Lebens, das der Ursprung und die notwendige Vorbedingung für die Ausübung aller Freiheitsrechte ist. Allein schon von dieser Wertigkeit her steht die Selbsttötung in diametralem Gegensatz zu unserem Recht und Kultur. Udo di Fabio, ehemaliger Richter am deutschen Bundesverfassungsgericht, sagt treffend: „Das Grundrecht auf Leben ist auch eine Wertentscheidung für das Leben, für eine lebensbejahende Gesellschaft, die hier entschieden Position bezieht.“
Diese Ausführungen verdeutlichen, dass der Schutz des Lebens über dem Selbstbestimmungsrecht steht und das höchste Rechtsgut darstellt. Der vom Bundesgericht und EGMR vertretene Standpunkt widerspricht der menschlichen Natur und Würde und setzt der menschlichen Freiheit durch das Recht auf einen selbstbestimmten Tod ein Ende. Statt zum Schutz der Freiheit führt er zum Auslöschen jeglicher Freiheit und verlässt den Boden einer lebensbejahenden Gesellschafts- und Rechtsordnung.
Verabsolutiertes Selbstbestimmungsrecht als Dammbruch
Die genannten Gerichte sehen in der Selbstbestimmung den „Ausdruck und Würde, wie sie das Individuum selbst wahrnehme“, was die menschliche Autonomie verabsolutiert. Auch wenn der EGMR in früheren Entscheiden die Suizidhilfe als im Widerspruch mit dem allgemeinen Interesse am Schutz des Lebens gesehen hat und diese „vom Begriff des Privatlebens ausgenommen“ ist, wurde schwerbehinderten und schwerkranken Personen ein Recht auf Suizidhilfe zugestanden, um den physischen Leiden und Verzweiflung Abhilfe zu gewähren. Doch dies war damals erst der Anfang. Nach und nach nahmen auch Depressive dieses Recht in Anspruch sowie Menschen, die aufgrund ihres Alters des Lebens müde geworden waren.
Eine ähnliche Entwicklung zeigt sich auch in der Schweiz. Zuerst nahmen Todkranke wie der Glarner Thys Jenny Suizidhilfe in Anspruch. Mittlerweile steigt jedoch die Zahl der Menschen, die wegen unerträglichen Schmerzen oder – subjektiv empfundenen – unzumutbaren Lebensumständen nach Suizidhilfe verlangen. Nicht mehr der tatsächliche, objektivierbare Gesundheitszustand ist das Kriterium für den assistierten Suizid, sondern der Wille der betreffenden Person. Dieser individuelle Wille und die Achtung der Lebensqualität geniessen den Respekt und Vorrang vor dem Leben. Geschützt wird heute also der subjektive Wert, den der Mensch seinem Leben beimisst. Der deutsche Publizist Norbert Clasen weist deshalb zu Recht darauf hin: „Wäre die Autonomie der Kern der Menschenwürde, so käme dem Menschen weder am Anfang noch am Ende des Lebens noch in den undenkbaren vielen möglichen Notlagen, welche die Selbstkontrolle über Körper und Verstand verlieren lassen, Würde zu.“
Auch das deutsche Bundesverfassungsgericht hat in früheren Urteilen noch den Wert des menschlichen Lebens unterstrichen: „Unser menschliches Dasein ist ein Wert an sich, ohne Rücksicht auf unser So-Sein. Es gibt, was die Würde anbelangt, keinen Mehrwert, keinen Minderwert, keinen Unwert. Jeder gilt, wenn er da ist, gleich viel. “ Von dieser klaren und das menschliche Leben achtenden Rechtsprechung haben sich jedoch die genannten Gerichte mittlerweile verabschiedet. Stattdessen verfolgen sie heute eine Rechtsauslegung, die diametral dem ursprünglichen Gedanken der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ (AEMR) und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) widerspricht, welche das Leben als „heilig“ und „unantastbar“ erklärten. Die AEMR und EMRK waren kurz nach dem Zweiten Weltkrieg eine klare Antwort auf die menschenverachtende und menschenfeindliche Ideologie des Nationalsozialismus und des Kommunismus. Keine Ideologie sollte fortan das Leben für ihre Zwecke missbrauchen. Doch wo stehen wir aufgrund der gegenwärtigen Entwicklung? Der Damm ist gebrochen und wenn ein Damm bricht, dann fallen im Laufe der Zeit jegliche Grenzen. Der Theologe und Buchautor Peter Hahne fragt: „Was bedeutet es für den Lebensimpuls einer Gesellschaft, wenn sich Selbstbestimmung in der Vernichtung des Selbst erfüllt? Hat sich da ein Autonomie-Ideal nicht ad absurdum geführt?“
Umfeld ist mit betroffen
Dieser zunehmenden Selbstverständlichkeit und Tendenz, in schwierigen Situationen Suizidhilfe in Anspruch zu nehmen, muss entgegengewirkt werden. Dies umso mehr, wenn wir uns die möglichen Folgen einer solchen Entwicklung vor Augen halten: Unsere Sicht auf das Leben wird sich zwangsläufig verändern und der Wert des Lebens wird weiter gemindert, wenn Sterben eine mögliche Option wird. Aus einem Recht auf Suizidhilfe kann dann schnell auch die Pflicht zur Rechtfertigung folgen, warum man diese nicht auch in Anspruch nimmt. Man stelle sich nur eine Situation vor, in der die betroffene Person sich als Last für die Umwelt sieht und von ihrem Umfeld allein gelassen bzw. unter Druck gesetzt wird. Es ist nur eine Frage der Zeit, dass dies auch zu einer Entsolidarisierung gegenüber Menschen in Lebenskrisen führt. Wird das Recht auf Suizidhilfe mehr und mehr zur „normalen“ Möglichkeit am Lebensende, steigt unweigerlich auch der Druck auf das Personal in Spitälern und Heimen, beim Suizid zu assistieren und dem Sterbewunsch der Betroffenen Rechnung zu tragen. Eine Aufweichung bzw. sogar Aufhebung der Gewissensfreiheit droht. Wenn durch die Selbstbestimmung des Suizidwilligen das Selbstbestimmungsrecht Dritter faktisch ausgehöhlt wird, ist dies eine paradoxe Situation.
Allzu oft wird auch vergessen, dass Familienangehörige und Freunde, die einen Nahestehenden durch Selbsttötung verloren haben, unter dieser Tat leiden, sich Fragen nach dem Warum stellen, von verlängerter Trauer betroffen sind und in Depression verfallen können. Der Suizid löst den jeweiligen Menschen zwar von der Welt, aber er löst ihn nicht von den sozialen Banden.
Aufgrund der steigenden Kosten im Sozial- und Gesundheitsbereich und der Überalterung unserer Gesellschaft könnten auch wirtschaftliche und politische Abwägungen die Situation für Kranke und Alte verschärfen, indem der Druck auf die Betroffenen steigt, aus dem Leben zu scheiden, um der Allgemeinheit und den Angehörigen nicht länger zur Last zu fallen.
Verlust der Freiheit
Insbesondere aus den Erfahrungen in Ländern mit liberalen Sterbehilfekonzepten ist zu beobachten, dass kranke Menschen die nötige Hilfe nicht mehr in Anspruch nehmen, obwohl die Gesellschaft noch nie über so viele Hilfsmittel verfügt hat, um Leiden zu lindern und Menschen auch psychologisch zu unterstützen. Statt Hilfe für den Nächsten anzubieten, verändern sich dort die Gesellschaften in Richtung „Sterben als einfacher Ausweg“. Raimund Klesse, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, hält dazu fest: „Doch gerade in Ländern wie Belgien und den Niederlanden regt sich Widerstand, der eine Rückbesinnung auf die Werte der Fürsorge, der menschlichen Begleitung und eines würdigen Lebens bis zuletzt einfordert.“
Die Autonomie des Menschen kollidiert mit dem einst in unserer Gesellschaft verankerten christlichen Menschenbild und verdrängt dieses und damit auch die personale, subjektive Würde, die dem Menschen als Abbild Gottes verliehen ist. Wohl deshalb ist die christliche Stimme mehr oder weniger noch die einzige, die sich für den unbedingten Schutz des menschlichen Lebens einsetzt. Geht diese Überzeugung verloren, geht auch die Achtung vor dem sterbenden Menschen und seinem Leben verloren. In seiner verabsolutierten Autonomie verliert der Mensch genau das, was er als Ausdruck seiner Entscheidung sieht: seine Freiheit. Bordat geht noch weiter: „Ohne diese als bedingungslos und unverfügbar verstandene Würde wird der Mensch zum Spielball von Interessen, kann instrumentalisiert werden und verliert den Anspruch auf unbedingte Achtung seines Lebensrechts.“
Die Schwachen tragen
In der Präambel der Schweizer Bundesverfassung heisst es, dass sich die Stärke des Volkes am Wohl der Schwachen misst. Soll dies nicht nur eine Floskel sein, ist es höchste Zeit, sich auf das Leben und unsere Werte zurückzubesinnen und die Suizidwilligen in ihrem Leid, in ihrer Angst vor Einsamkeit, Verlassenheit und Abhängigkeit zu begleiten.
Es ist eine der zentralen Aufgaben unserer Gesellschaft, Menschen, die sich aufgegeben haben und Suizidhilfe in Betracht ziehen, zu unterstützen, ihnen zuzuhören und sie in ihrem Leid anzunehmen. Fühlt der krisengeschüttelte Mensch, dass der Zuhörende seine Sicht nicht teilt, seine Situation nicht als hoffnungslos ansieht, sondern ihm neuen Lebensmut geben und neue Perspektiven aufzeigen kann, öffnen sich durchaus auch neue Möglichkeiten für ein Weiterleben, für ein Ja zum eigenen Leben. Wohl das Entscheidendste ist, wie Klesse festhält, dass der Betroffene sich auf seine Familie und Freunde verlassen kann, ihn auf diesem Weg zum natürlichen Tod zu begleiten: „Dann kann eine Abrundung und eine Versöhnung mit dem eigenen Leben stattfinden, Beziehungen geklärt werden und eine würdige Verabschiedung gelingen.“