In den Strassen Teherans und anderer iranischer Städte reissen seit Monaten die Demonstrationen von Frauen und jungen Mädchen gegen das langjährige Unterdrückungsregime der schiitischen Klerisei nicht mehr ab. 18‘000 von ihnen wurden schon verhaftet. Vielen droht die Hinrichtung wegen „Krieg gegen Gott und Verderbtheit auf Erden“. 23 Todesurteile wurden schon verhängt, zwei davon bereits öffentlich vollstreckt.
Von Heinz Gstrein
Symbol des Aufbegehrens gegen die Staatsgewalt ist der Tschador, ein dunkles Tuch, das Haare und Körper bis zu den Fussspitzen bedeckt. Seit am 16. September die 22-jährige Jina Mahsa Amini wegen des Hervorschauens einiger Haare aus dieser Verhüllung von einer sogenannten „Belehrungs-Streife“ (Gascht-e Erschad) festgenommen und bei ihrer „Belehrung“ während der Haft tödlich verletzt wurde, kommt die Islamische Republik nicht mehr zur Ruhe: In immer mehr Orten verlassen Frauen die ihnen vom islamischen Recht zugewiesenen häuslichen Mauern, legen öffentlich den ihnen seit über 40 Jahren aufgezwungenen Tschador ab, treten ihn mit Füssen oder verbrennen ihn. Sie rufen nach Befreiung der iranischen Frauen von der drückenden islamischen Herrschaft, immer öfter aber auch nach einem allgemeinen politischen Umschwung.
Ähnliche Bilder hatte es schon im Spätherbst und Winter 1978/79 gegeben, als die Islamische Revolution durch den Iran rollte. Auch damals wurde mit dem Tschador als Fahne der Unrast demonstriert. Doch mit dem Unterschied, dass die Frauen den schwarzen Umhang nicht abgelegt, sondern übergezogen hatten, dass ihre umstürzlerischen Parolen nicht dem islamischen Ayatollah-Regime, sondern der Herrschaft von Reza Schah Pavlavi galten. Dieser hatte im Rahmen seines Reformprogramms den Tschador verboten, so dass dessen Tragen im Iran zum sichtbaren Aushängeschild der Islamischen Revolution wurde.
Von dieser erhofften sich auch Millionen Frauen ein Ende der Unterdrückung jeder Meinungsfreiheit durch die Staatspolizei Savak, eine neue demokratische Ordnung und soziale Gerechtigkeit. Das schienen ihnen die Äusserungen von Revolutionsführer Ayatollah Chomeini und die Tatsache zu versprechen, dass ihm zunächst der fortschrittliche Sozialdemokrat Abolhassan Banisadr zur Seite stand, der auch mit ihm zusammen am 1. Februar 1979 aus dem Exil in Paris angelangt war.
Der Schah hatte sich zwar bemüht, den Einfluss der schiitischen Geistlichkeit und des Islam überhaupt zurückzudrängen, versäumte es aber, eine überzeugende andere Weltanschauung anzubieten. Seine Versuche, die altpersische, vorislamische Religion Zarathustras neu zu beleben, fanden nur bei Intellektuellen Anklang. Seine Schwester, Prinzessin Schams, hatte ihm vergeblich geraten, eine Christianisierung des Irans zu unterstützen. Sie selbst legte als Erste 1934 den Tschador noch vor dessen Verbot ab und liess sich in den 1940er-Jahren taufen. Wegen beidem traf sie der doppelte Hass der Ayatollahs.
Es war also ein religiöses Vakuum, in das die Islamische Revolution vorstossen konnte. Um zu erahnen, was Chomeini wirklich im Schilde führte, hätte man aber schon damals nur hinaus in seine Residenzstadt zu gehen brauchen, das „heilige“ Qom. Auf ein Interview mit dem Hoffnungsträger Irans, aber auch des gesamten Westens, der ihn verblendet dem Schah vorzog, musste man tagelang warten. Die Journalisten und einige wenige mutige Kolleginnen wurden in einer Pilgerherberge untergebracht. Die Verpflegung bestand aus mittags Reis mit Zwiebeln und zum Abendessen Zwiebeln mit Reis. Ausser den paar Journalistinnen gab es keine Frauen zu sehen.
Bis wir im Innenhof auf einen Verschlag stiessen. Dort könne man Ehen auf Zeit schliessen, was besonders frommen Pilgern empfohlen sei, die vorübergehend ohne ihre Frauen auskommen müssten. Drinnen in der Hütte sassen ein paar Mollahs, die eine recht grosse Schar potentieller Frauen auf Zeit anboten, von einer Stunde bis zur vollen Nacht. Meist verschüchterte Mädchen, unter dem Tschador natürlich. Erst nach Entrichtung des „Mietpreises“ und den islamischen Hochzeitsgebeten durfte man den Tschador lüften…
Das also war die Befreiung von der „Tyrannei des Schahs“, die Ayatollah Chomeini für Irans Frauen bereithielt. Ob heute endlich diese feministische Revolte unter dem Motto „Frauen, Leben, Freiheit“ zum Erfolg oder in fortdauernde, noch schlimmere Unterdrückung führt, ist jetzt die bange Frage. Die namhafte Orientalistin Gudrun Harrer äussert sich dazu pessimistisch: Die Frauenbewegung habe nur in den Städten – immerhin schon 140 – Rückhalt, auf dem Land sei weiter die Freitagspredigt in den Moscheen richtungsweisend. Ausserdem hing der Erfolg der weitgehend von Frauen getragenen Islamischen Revolution vor 45 Jahren auch damit zusammen, dass ihr nur ein ohnehin schon schwächelndes Regime des kranken Schahs entgegenstand.
Dieses Argument ist relevant, da heute breite Kreise hinter der Islamischen Republik stehen, die ihnen Wohlstand und soziale Dominanz sichert. Das gilt vor allem für die „Pasdaran“, die „Wächter“ der islamischen Ordnung. Sie bilden neben und über den regulären Streitkräften eine Art schiitische Waffen-SS, die sich verbissen für die Ayatollah-Herrschaft einsetzen.
Für eine Durchsetzung des Aufstands der Iranerinnen sprechen hingegen Hoffnung weckende Entwicklungen: Von den 84 Millionen Iranerinnen und Iranern leben heute drei Viertel nicht mehr auf dem Land, sondern in einer der acht Millionenstädte des Landes. Aber auch in der „Provinz“ sind heute so gut wie alle Haushalte dank Fernsehen und Internet rasch und gut darüber informiert, was sich in den städtischen Zentren abspielt. Dort lebt heute die Hälfte der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, 2,5 Millionen Strassenkinder vegetieren ohne Obdach, medizinische Versorgung, Schulbildung und regelmässige Nahrung. Dabei haben Chomeini und seine Helfer versprochen: „Der Islam löst das Problem der Armut“. Heute sind diese von Wohlfahrt und erst recht Wohlstand Ausgeschlossenen jene, die sich als nächste der Frauenerhebung in Iran anschliessen und dieser zum Sieg verhelfen könnten …