Arabische Staaten in Nahost zeigen trotz ihrer breit bekundeten, öffentlichen Sympathie für die Palästinenser wenig Bereitschaft, diese als Flüchtlinge aus dem Gazastreifen aufzunehmen. Dabei könnte die Umsiedlung der Bewohner des Gazastreifens in arabische Länder im Nahen Osten die Zahl der zivilen Opfer im Kampf zwischen der Hamas und Israel verringern.

Von M. Hikmat

Ägypten, Jordanien, Syrien oder der Libanon lassen in der Regel keine Menschen aus Gaza ins Land. Sie stehen vor eigenen Herausforderungen und wollen keine palästinensischen Flüchtlinge aufnehmen. Zudem stehen der Aufnahme von Palästinensern in andere arabische Länder historische Konflikte, wirtschaftliche Faktoren und antiisraelische Ideologien im Weg.

Geschichte erklärt die Ablehnung

Ägypten beispielsweise hat Sicherheitsbedenken aufgrund der instabilen Lage auf der Sinai-Halbinsel und befürchtet, dass die Aufnahme von Palästinensern zu einem dauerhaften Verbleiben führen könnte. Dagegen sprechen aus Sicht Ägyptens auch wirtschaftliche Probleme und das bevorstehende Bevölkerungswachstum. Trotz Versöhnungsbemühungen zwischen Kairo und der Hamas bestehen wegen der Sicherheitslage und der politischen Situation vor Ort beim Grenzübergang Rafah erhebliche Einschränkungen, weshalb Rafah oft geschlossen ist. Die Genehmigung zum Passieren des Grenzübergangs kann Monate dauern, da die Nordsinai-Region seit den 1950er-Jahren eine instabile und kaum kontrollierte Zone ist.

Dazu kommt, dass sich Ägypten seit dem Arabischen Frühling vor elf Jahren im Konflikt befindet. Die Armee im Sinai steht verschiedenen Dschihadisten gegenüber. Die möglichen wirtschaftlichen Belastungen durch die Aufnahme von Flüchtlingen bereiten der Regierung von Präsident Sisi mehr Sorgen als der Zustrom von Hamas-Kämpfern, die sich möglicherweise Dschihadisten anschliessen. Zudem kann es sich Ägypten aus politischen Gründen nicht leisten, viele Flüchtlinge vor den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen aufzunehmen. Bis anhin ist nur wenigen Krankenwagen, die schwerkranke oder schwer verletzte Bewohner des Gazastreifens befördern, die Einreise nach Ägypten erlaubt.

Jordanien

Auch Jordanien lehnt die Aufnahme weiterer Flüchtlinge ab. Grund hierfür sind die historischen Spannungen, die bis in die 1970er-Jahre zurückreichen, und die Sorge vor terroristischen Angriffen. König Abdullah II. betont, dass die Lösung des Gaza-Problems im Gazastreifen und im Westjordanland gefunden werden sollte. Eine Abwälzung der Problematik auf andere Länder bekämpft er. Jordanien hat historisch schwierige Beziehungen zu Palästinensern, insbesondere zu Flüchtlingen. Diese komplexen Beziehungen resultieren aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg.

Syrien

Auch Syrien lehnt die Aufnahme von palästinensischen Flüchtlingen ab. Der syrische Präsident Bashar al-Assad in Syrien befürwortet die Errichtung eines palästinensischen Staates auf deren eigenen Land. Und dies obwohl er die pro-palästinensische und antiisraelische Rhetorik immer als Taktik angewendet hat, um seine Macht zu festigen. Er nutzte seit Jahrzehnten jede Chance, sich als Beschützer der muslimischen Welt gegen die vermeintliche jüdische Bedrohung zu positionieren. Denn Bashar, sein verstorbener Vater und der ehemalige Präsident Hafez al-Assad sind Aleviten in einem Land, wo sunnitische Muslime die Mehrheit der Bevölkerung stellen. Deshalb diente die Idee der Zerstörung Israels den Aleviten als bedeutsame Legitimationsquelle ihrer Herrschaft in Syrien, einem Land, in dem sie von den Sunniten als Feinde des Islam angesehen werden. Aufgrund dieser Gegebenheiten erschweren die syrischen Behörden den Palästinensern das Leben und wollen verhindern, dass diese sich für längere Zeit in Syrien niederlassen. Das Ziel Syriens ist die Rückkehr der Palästinenser in ihr Land und den Aufbau ihres eigenen Staates.

Nach Beginn des Bürgerkriegs in Syrien im Jahr 2011 waren etwa 160‘000 der damals etwa 500‘000 dort lebenden Palästinenser gezwungen, Syrien zu verlassen und in friedlicheren Regionen oder in den umliegenden Nachbarstaaten Zuflucht zu suchen. Mit anderen Worten: Sie wurden zum zweiten Mal zu Flüchtlingen. Die Zahl der Opfer unter Palästinensern im Syrienkonflikt geht in die Tausende. Unter diesen sind viele, die von der syrischen Armee oder Geheimdiensten wegen des Verdachts der Beteiligung an Rebellengruppen getötet wurden.

Darüber hinaus werden Palästinenser weiterhin diskriminiert. Ihr Leben ist aufgrund der anhaltenden Feindseligkeiten und Razzien der Regierung gegen Sunniten kaum sicherer als in Gaza. Obwohl sie kein Recht auf die syrische Staatsbürgerschaft haben, werden sie in die syrische Armee eingezogen. All diese Faktoren machen Syrien zu einem äusserst unwahrscheinlichen Ziel für Bewohner des Gazastreifens. Zudem hat Syrien keine Grenzen zu den palästinensischen Gebieten und keine offiziellen Beziehungen zu Israel, was die Umsiedlung von Palästinensern ohne die Beteiligung Israels unmöglich macht.

Libanon

Im Libanon gibt es auch ein System der Diskriminierung palästinensischer Flüchtlinge, das dem syrischen Regime ähnelt. Lokale Palästinenser leben getrennt von der einheimischen Bevölkerung, haben kein Recht auf den Erwerb der Staatsbürgerschaft und haben zudem nur begrenzten Zugang zu finanziellen und sozialen Leistungen. Dies ist nicht überraschend, wenn man bedenkt, dass der Libanon von 1976 bis 2005 unter syrischer Besatzung stand und die Besatzer ihre eigenen Methoden und Strategien mitbrachten. Darüber hinaus marschierte die syrische Armee in den Libanon ein unter dem Vorwand, militante palästinensische Gruppen, deren unkontrollierte Aktivitäten einer der Hauptgründe für den libanesischen Bürgerkrieg im Jahr 1975 waren, einzudämmen.

Die heutige libanesische Regierung sieht sich eigenen gravierenden Wirtschaftsproblemen gegenüber und ist politisch instabil. Sie lehnt die Betreuung der Gaza-Flüchtlinge ab. Angesichts dieser Umstände und der unzähligen internen Konflikte ist das Land zerrissen und nicht darauf vorbereitet, eine vorübergehende Heimat für Tausende von Menschen zu sein, die vor Konflikten fliehen. Vielmehr besteht die Gefahr, dass der Libanon an der Seite der Hamas in einen Krieg gegen Israel verwickelt wird.

Wasser predigen und Wein trinken?

In einem komplexen geopolitischen Kontext, geprägt von historischen Spannungen und Konflikten, Sicherheitsbedenken und wirtschaftlichen Herausforderungen, wird deutlich, dass arabische Länder kein Interesse haben, Palästinenser aus dem Gazastreifen aufzunehmen. Die Haltung arabischer Länder gegenüber palästinensischen Flüchtlingen steht im Widerspruch zu den propagierten Idealen der Unterstützung und Solidarität.

Es scheint, als würden sie taub und blind, wenn es um die konkrete Aufnahme von Palästinensern geht. Der offenkundige Widerspruch zwischen Worten und Taten erstreckt sich auch auf andere arabische Nationen wie Saudi-Arabien und Katar, die oft vehement die Rechte der Palästinenser einfordern, aber in der Praxis nichts tun, um ihre muslimischen Geschwister in Not aufzunehmen.