Ärzte in Österreich können in Zukunft sowohl nach der Geburt eines gesunden als auch behinderten Kindes belangt werden. Die Richter wollen mit ihrer Entscheidung offenbar dem Vorwurf der Diskriminierung von Behinderten entgegenwirken. Die Entscheidung ändert jedoch wenig daran, dass die Geburt eines ungewollten Kindes weiterhin mit „Schaden“ assoziiert wird. Diskriminierend ist das OGH-Urteil zudem gegenüber Eltern, die sich bewusst für ihr ungewolltes oder behindertes Kind entscheiden.
Ausgangspunkt der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs (OGH) vom 21.11.2023 war die Klage von Eltern einer Tochter, die ohne linken Arm und mit einem unterentwickelten linken Brust- und Schulterbereich zur Welt kam. Die Fehlbildung wurde während der Schwangerschaft vom behandelnden Arzt sorgfaltswidrig nicht erkannt. Die Eltern brachten vor, dass sie ihr Kind abgetrieben hätten, wenn dem Arzt kein Fehler bei der Untersuchung unterlaufen wäre und er sie sachgemäss aufgeklärt hätte.
Der OGH sah im vorliegenden Fall den Schutzzweck des Behandlungsvertrags durch den Arzt verletzt und bestätigte den daraus entstandenen finanziellen Schaden in Form der Unterhaltverpflichtung der Eltern. Weil diese sich bei ordnungsgemässem Vorgehen des Arztes gegen das Kind entschieden hätten, bekräftigte das Gericht, dass ihnen der gesamte Unterhaltsaufwand vom Arzt zu ersetzen sei.
OGH unterscheidet nicht mehr zwischen gesunden und behinderten Kindern
Es ist nicht das erste Mal, dass sich der OGH mit Fällen von misslungener Empfängnisverhütung und Aufklärung (wrongful conception) sowie einer fehlerhaften Pränataldiagnostik (wrongful birth) auseinandergesetzt hat (1 Ob 91/99k, 5 Ob 165/05h, 6 Ob 101/06f, Bioethik aktuell v. 18.03.2008, 6 Ob 148/08w). Neu ist jedoch, dass der Gerichtshof seine Rechtsprechung zu „wrongful conception“ und „wrongful birth“ in der nunmehrigen Entscheidung vereinheitlicht hat. In beiden Fällen wäre das Kind bei fachgerechtem Vorgehen und ordnungsgemässer Aufklärung nicht empfangen bzw. nicht geboren worden, so der OGH. Deshalb hafte der Arzt unabhängig davon, ob es sich dabei um ein gesundes oder behindertes Kind handelt, für den gesamten von den Eltern zu tragenden Unterhaltsaufwand.
Kritik: Finanzieller Schaden lässt sich von Existenz des Kindes nicht trennen
Der Gerichtshof führt in seinem Urteil zwar immer wieder an, dass der zu ersetzende Schaden niemals in der Existenz des Kindes, sondern allein im finanziellen Aufwand, der aus seiner Geburt resultiert, gesehen werden muss. Doch auch wenn sich die Entscheidung rechtspositivistisch aus dem Schadensersatzrecht argumentieren lässt, ist die Trennung von Existenz und Schaden in der Rechtslehre durchaus umstritten.
Embryopathische Indikation fördert Bild vom „Kind als Schaden“
Umso mehr ist auch verständlich, dass derartige Urteile in der Öffentlichkeit die Wahrnehmung fördern, wonach das behinderte oder nicht-gewollte Kind einen Schaden darstellt, während seine Nicht-Existenz ein Nutzen wäre. Eine Voraussetzung für den Schadensersatzanspruch aus dem Titel des „wrongful birth“ bildet ausserdem der vor 50 Jahren in Österreich zugelassene Schwangerschaftsabbruch, der damals auch aufgrund der Behinderung des Kindes erlaubt wurde. Zusammen betrachtet haben die Abtreibung aufgrund der embryopathischen Indikation und die „Kind als Schaden“-Judikatur des OGH dazu beigetragen, dass gesamtgesellschaftlich ein Kind als Schaden definiert und ihm unter bestimmten Bedingungen das Lebensrecht abgesprochen werden kann.
Lebensbejahende Eltern werden benachteiligt
Auch wenn der OGH mit der Gleichbehandlung von „wrongful birth“ und „wrongful conception“ die Benachteiligung von Menschen mit Behinderung beseitigen möchte, ist seine Rechtsprechung basierend auf der momentanen Rechtslage immer noch diskriminierend. Die Geburt eines ungewollten oder behinderten Kindes wird nämlich nur dann zur Quelle finanzieller Entschädigung, wenn es gegen den Willen der Eltern empfangen oder einer Abtreibung entkommen ist. Damit werden aber klar jene Eltern diskriminiert, die sich für das Leben ihres ungewollten oder behinderten Kindes entscheiden. Ihnen steht kein Anspruch auf einen finanziellen Ausgleich für die Unterhaltskosten zu.
Entscheidung führt Dringlichkeit einer Gesetzes-Novelle erneut vor Augen
Das OGH-Urteil führt letztlich die Dringlichkeit einer neuen gesetzlichen Regelung und gesellschaftlichen Lösung des Sachverhalts vor Augen. Das betont der OGH selbst, der den Gesetzgeber hier in die Pflicht nimmt. Vorschläge für eine rechtliche Regelung wurden auch bereits unterbreitet, bis dato jedoch nicht umgesetzt. 2011 schlug etwa die Österreichische Gesellschaft für Prä- und Perinatale Medizin einen Fonds vor, der an Eltern behinderter Kinder Zahlungen leisten würde, ohne die Ärzte dabei aus „verhältnismässiger“ Haftung zu entlassen (Bioethik aktuell, 10.5.2011). Betroffene Paare sollten sich aussergerichtlich an den Fonds wenden können, der dann auch die Prüfung der Haftungsfrage der Gynäkologen übernehmen und Regressforderungen an den Arzt stellen würde. Zivilrechtliche Klagen wären bei Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit auch weiterhin möglich. Im Jahr 2006 gab es zudem einen Vorschlag für ein Gesetz, das es verbieten würde, aus der Tatsache der Geburt eines Menschen, ein Anspruch auf Schadenersatz abzuleiten (vgl. Thomas Piskernigg: Gesetzesvorstoss gegen die „Kind als Schaden-Rechtsprechung“ des OGH, in: Imago Hominis (2007); 14(3): 227-242)
Quelle: IMABE