„Ethik und Fürsorge sind eine Herzensangelegenheit“, betonte kürzlich die Medizinethikerin Ruth Baumann-Hölzle an einem Ethik-Forum am Kantonsspital (KSA) Aarau. Gerade anhand dieses Spitals ist überdeutlich geworden, wie stark sich wirtschaftliche Interessen mit den Bedürfnissen von Personal und Patienten kreuzen können. Dabei übersehen die Manager leicht, dass beides eng miteinander verknüpft ist und ausgewogen sein muss.
Von Fritz Imhof
Das Gesundheitswesen steht nicht nur unter hohem wirtschaftlichem Druck, es fordert auch von den Menschen, die sich dafür engagieren, eine überdurchschnittliche körperliche, psychische und moralische Leistung ab. Sie sind gefordert, Fürsorge zu erbringen, brauchen aber auch selbst Fürsorge, wie am erwähnten Ethik-Forum hervorgehoben wurde.
Dem Spannungsfeld gerecht werden
Das Spannungsfeld illustrierte gleich zu Beginn des Ethik-Foren-Treffens der Verwaltungsratspräsident des KSA, Daniel Lüscher. Er ist auch interimistischer CEO des KSA, nachdem der frühere CEO Anton Schmid entlassen worden war, weil es ihm offenbar nicht gelungen war, die wirtschaftlichen Herausforderungen des Spitals schnell genug zu meistern. Darunter auch durch Entlassungen, wie man annehmen muss. Personalreduktionen gehören nach wie vor zum Schlüssel für Sanierungen auch im Gesundheitswesen, wobei selten erwähnt wird, welche Kollateralschäden dabei durch die Verunsicherung der angestellten Menschen angerichtet werden.
Lüscher versuchte, diesem Eindruck entgegenzuwirken, indem er vor den anwesenden Mitgliedern von Ethikforen betonte: „Wer heute Medizin sagt, sagt auch Ethik.“ Das KSA arbeite aber oft auch in einem Dilemma zwischen Berufsethos und Wirtschaftlichkeit. Das Spital müsse wirtschaftlich gesund sein und könne nur Therapien anbieten, die auch kostendeckend sind. Das Ethikforum am KSA könne aber das Dilemma reduzieren.
Für die Medizinethikerin Ruth Baumann-Hölzle, scheidende Leiterin des Instituts Dialog Ethik, braucht es allerdings an einem Spital Rahmenbedingungen, die es dem medizinischen und dem Pflegepersonal ermöglichen, ihrem Ethos gemäss zu handeln. Ethik und Fürsorge müssten für alle Beteiligten eine Herzensangelegenheit sein. Baumann-Hölzle zitierte Hans Henry P. Kluge, Regionaldirektor der WHO für Europa, mit den Worten: „Wir dürfen keine Zeit verlieren. Ein Gesundheitssystem ist nur so stark wie das Gesundheitspersonal, das es am Laufen hält.“
Gibt es eine Versöhnung von Wirtschaft und Mitmenschlichkeit?
Können sich Herzensanliegen, Menschlichkeit, Fürsorge und Finanzmanagement überhaupt miteinander versöhnen? Die Umgestaltung vieler Spitäler zu Aktiengesellschaften in den 90er Jahren setzte dies letztlich einfach voraus. Sie verpflichtete zum Beispiel die Spitäler, mindestens so viel Überschuss zu erarbeiten, dass die Werterhaltung und Innovation aus eigener Kraft erfolgen konnte. Interessanterweise schaffen das heute ausgerechnet Spitäler, die einen starken Akzent auf die (seelsorgerliche) Betreuung der Pflegenden und Gepflegten legen! Dokumentiert wird das zum Beispiel anhand der Klinik Neumünster am Zollikerberg, wie dies Werner Widmer, Vizepräsident der Stiftung Diakoniewerk Neumünster in Zürich, im März 2023 an einer Tagung über Spiritual Care in Aarau darlegte.
Mitarbeitende im Spital pflegen Menschen, die gemäss Bundesverfassung ein Recht auf Leben, körperliche und geistige Unversehrtheit haben. Gleichzeitig müssen sie die Autonomie der Patienten ernst nehmen. Dabei dürfen Patienten nicht Mittel zum Zweck werden, so Baumann-Hölzle. Bei der Pflege müssten Emotion und Vernunft in einem Gleichgewicht bleiben. Dies funktioniere vor allem dort, wo auch die Mitarbeitenden erfahren, dass sie nicht Mittel zum Zweck sind. Diana Meier-Allmendinger, Mitarbeiterin Dialog Ethik, sagte es so: „Es geht um Respekt und Unterstützung. Fürsorge ist Teil wertschätzender Zusammenarbeit.“
Wachsende Herausforderungen
Welchen Herausforderungen und Gefahren das Personal ausgesetzt ist, berichtete an der Ethik-Foren-Tagung in Aarau der KSA-Arzt Matthias Nebiker aufgrund seiner Erfahrungen auf der Intensivmedizin während der Corona-Zeit. Wenn die Heilungschancen für einen Menschen ungewiss sind, müssen nicht nur schwierige Entscheidungen getroffen werden. Auch die Angehörigen werden für das Pflegepersonal zur Herausforderung. Für das Personal im KSA gibt es daher aufgrund der Erfahrungen während der Covid-Epidemie eine Hotline, auf der die Mitarbeitenden Beratung erhalten, wenn sie an ihre psychischen, moralischen und körperlichen Grenzen kommen, wie Volker Eschmann, Mitglied des Ethikforums am KSA, berichtete. Eine Innovation, die Kreise ziehen und allenfalls mit weiteren Angeboten für das gestresste Personal ergänzt werden müsste.
Denn dieses dürfte in Zukunft noch mehr herausgefordert werden. Der Biomediziner und Ethiker Thomas Kapitza zeigte die Herausforderungen am Beispiel der „digitalen Industrialisierung“ im Gesundheitswesen auf. Das extensive Sammeln von Daten und deren Auswertung in diesem Bereich bediene vor allem wirtschaftliche Interessen und könne das Personal in einen „Moral Distress“ – in ethische Spannungen – führen, wenn finanzielle Interessen die Lebensqualität verdrängten.
„Wir brauchen eine Kultur der Sorge“, betonte daher Daniel Gregorovius, Mitarbeiter von Dialog Ethik. Er zeigte in Aarau auf, wie es zu „Moral Distress“ kommt, wenn Mitarbeitende auf Geheiss von oben gegen ihr Gewissen handeln müssen. Wenn diese Spannungen dauernd zunehmen, verbunden mit traumatischen Erfahrungen, könne es zu „Moral Injury“ – zu einer Beschädigung moralischer Überzeugungen – und schliesslich zu einem „moralischen Zusammenbruch“ kommen, der die ethischen Überzeugungen von Betroffenen hinwegfegt. Ein Befund, den vor allem die Spitalleitungen ernst nehmen müssten, auch wenn die Prävention etwas kosten wird.
Rita Bossart Kouégbé, eine Mitarbeiterin am Kantonsspital, gab daher dem Kürzel KSA eine neue Bedeutung: „Achtsamkeit, Sorge sowie Konstruktive Zusammenarbeit und Kommunikation.“
Zuerst erschienen bei Insist Consulting, Publikation mit freundlicher Genehmigung.