„Wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten“, so das Zitat auf der Rückseite der Biografie der Berner Kantonsrätin Sabina Geissbühler-Strupler. Die Mutter der langjährigen SVP-Nationalrätin Andrea Geissbühler beschreibt darin neben viel Biografischem ihren persönlichen und politischen Werdegang. Im Interview mit Regula Lehmann von Zukunft CH spricht Sabina Geissbühler über ihr Leben und Wirken, bei dem das Glück und die Zukunft von Kindern immer im Zentrum stand und steht.

Zukunft CH: Frau Geissbühler, woher kommt Ihre starke Fokussierung auf Kinder, ihre Bedürfnisse und ihr Recht auf eine lebenswerte Zukunft?

Geissbühler: Alle meine positiven und negativen Erfahrungen als Kind in einer Grossfamilie mit zwei Schwestern und drei Brüdern, aber auch das Kennen der Fehlentwicklungen in der Vergangenheit, der Geschichte unseres Landes, veranlassten mich dazu, in die Zukunft zu schauen; denn die Kinder sind unsere Zukunft. Die Devise: „Gouverner c’est prévoir“ („Regieren bedeutet Vorausschauen“) begleitete mich insbesondere während meiner Zeit als Politikerin. Bei allen Entscheidungen, die ich im Grossen Rat des Kantons Bern zu treffen hatte, prüfte ich zuerst deren kurz- und längerfristigen Auswirkungen.

Zukunft CH: Eines Ihrer Hauptanliegen als Politikerin waren die Kinder, das Wohl von Kindern. Was war dabei Ihr Hauptfokus?“

Geissbühler: Mein zentrales Anliegen war, für die Kinder, die mir in meinem Bewegungskindergarten, in der Schule oder dem Sportverein anvertraut wurden, und später auch für meine eigenen vier Kinder, eine lebenswerte Schweiz mitzugestalten. Eine Umgebung zu schaffen, in welcher die Kinder die Kraft und Schönheit der Natur erleben und ohne Zeitdruck ins (Fantasie-)Spiel versinken können. Jeder Mensch, jedes Kind ist einmalig, ausgestattet mit ganz unterschiedlichen Begabungen. Es gilt für Eltern, aber auch für Lehrpersonen, diese zu entdecken und zur Entfaltung zu bringen. Mit der Einführung des Lehrplans 21 wurden die Stundenpläne jeder Klasse mit bis zu vier zusätzlichen Lektionen aufgestockt. Damit die musische und auch sportliche Förderung der Kinder nicht weiter auf der Strecke bleibt, muss den Kindern mit einer Reduktion der Lektionen die gestohlene Freizeit zurückgegeben werden.

Zukunft CH: Sie wuchsen mit verständnisvollen Eltern, geborgen in einer grossen Familie, auf und genossen dort viel Zeit für Spiele und Fantasie. Wie hat Ihre glückliche Kindheit Ihren Weg als Politikerin beeinflusst?

Geissbühler: Unsere Mutter, die für die achtköpfige Familie dreimal im Tag eine Mahlzeit zubereitete, vieles dazu aus dem eigenen Garten verarbeitete, nähte, flickte, verarztete, war immer irgendwo im oder ums Haus anzutreffen. Diese Gewissheit, dass unser Mueti immer als Ansprechperson da war, führte dazu, dass ich ein grosses Urvertrauen aufbauen konnte. Schon als jüngeres Kind war ich Nachmittage lang im Wald oder in Schuppen und Heustöcken als Bandenchefin unterwegs. Ich habe erlebt, dass Kinder, die wie ich in finanziell bescheidenen Verhältnissen und mit wenigen Spielsachen aufwachsen, ihren Erfindergeist entdecken. Für meine Freundinnen habe ich aus Karton Klaviere mit weissen und schwarzen Tasten hergestellt, damit sie zuhause ihre Klavierstücke üben konnten. Unsere Familie hatte von meiner alleinstehenden Tante ein richtiges Klavier erhalten. Einmal in der Woche erteilte ich meinen Freundinnen auf diesem Instrument Klavierunterricht.

Mein Vater hat uns gezeigt, wie Leitern, Harassen oder unser Scheitstock als Turngeräte eingesetzt werden können. Vieles, das ich als Kind erfahren habe, wollte ich auch der nächsten Generation weitergeben. Ich setzte mich ein für die „Familien-Initiative“: für eine Gleichbehandlung der Familien, die ihre Kinder selbst betreuen und derjenigen, die ihre Kinder in die Krippe geben. Oder ich habe in unserer Gemeinde das Umweltressort geleitet und verschiedene Events organisiert wie „Umweltfreundliches Haushalten“, „Spielen mit Naturspielzeugen“ oder „Pflanzen von Hecken“.

Zukunft CH: Wie lebten Ihre Eltern ihre Vater- und Mutterrolle? Was für ein Frauenverständnis herrschte in Ihrer Herkunftsfamilie? Es war ja auch die Zeit, in der in der Schweiz hitzig über das Frauenstimmrecht debattiert wurde…

Geissbühler: Zuhause wurde damals intensiv über die anstehende Volksabstimmung zur Einführung des Frauenstimm- und Wahlrechts diskutiert. Unsere Mutter hatte das Gymnasium, Typus C, mit mathematisch-naturwissenschaftlichem Schwerpunkt besucht. Somit war es für unseren Vater und die drei Brüder selbstverständlich, dass insbesondere „Mueti“, aber auch wir drei Schwestern, fähig sein würden, die neuen politischen Rechte verantwortungsvoll wahrzunehmen. Was alle Familienmitglieder störte, war die Geringschätzung der Rolle der Frauen, die ihre Mutterpflichten als wichtigste Lebensaufgabe wahrnahmen, und die penetranten Auftritte verschiedener Frauenrechtlerinnen.

Zukunft CH: Während ihrer Ausbildung und als junge Lehrerin befassten Sie sich kritisch mit verschiedenen Theorien, insbesondere mit der Freud‘schen Sexualtheorie. Diese modernen Ansätze wurden ja von vielen Pädagogen recht unkritisch übernommen…

Geissbühler: Als fast fertig ausgebildete Lehrerin war ich entsetzt, wie auch in der Pädagogik die Meinung um sich griff, dass durch sexuelle Handlungen mit Kindern ihre Probleme und Defizite verringert, ja sogar geheilt werden könnten. Ein bekannter Vorreiter dieser Freud‘schen Sexualtheorie war A.S. Neill, der Gründer der Summerhill-Schule in Leiston an der englischen Ostküste. Er plädierte dafür, dass Kinder in ihrem Sexualtrieb nicht eingeschränkt werden und Triebe sich nicht „aufstauen“ dürften. Den kindlichen Masturbationstrieb nannte Neill den wichtigsten aller Spieltriebe. In der Schweiz wurde der Pädagoge Jürg Jegge, der ähnliche Theorien verbreitete, insbesondere von den Medien hochgelobt. Da ich mich intensiv mit Kindern beschäftigte, ortete ich ihr Interesse an vielfältigen Körpererfahrungen: Laufen, hüpfen, rollen, schwingen, werfen, balancieren…, aber selten an ihren Geschlechtsteilen.

Zukunft CH: Im Buch erzählen Sie auch von Ihrer eigenen Familiengründung. Wie haben Sie Familie und Ihre Engagements in Beruf und Politik unter einen Hut gebracht? Und wie hat sich Ihr Muttersein auf Ihre politische Arbeit ausgewirkt?

Geissbühler: Für mich war der Wunsch gross, die Erziehung und Bildung unserer Kinder in den Mittelpunkt stellen zu können. Denn dies schien mir die sinnerfüllteste Lebensaufgabe. Ich wollte in Phasen leben, damit ich – wie schon mein Mueti – den eigenen Kindern eine stabile, verlässliche Bezugsperson sein konnte, die das Urvertrauen der Kinder stärkte. Das politische und berufliche Engagement wurde erst mit dem Schuleintritt der Kinder langsam erweitert. Dank den Tätigkeiten und Erfahrungen als Mutter konnte ich als Lehrperson, Erwachsenenbildnerin und Politikerin in allen Lebensbereichen Erfahrungen und Verbesserungsvorschläge einbringen.

Zukunft CH: Viele Jahre lang engagierten Sie sich in der „Schweizerischen Vereinigung Eltern gegen Drogen“. Was hat Sie dazu bewogen und welche Akzente konnten Sie damit setzen?

Geissbühler: Aus Dankbarkeit, dass keines unserer Kinder einer Sucht verfallen ist, habe ich mich seit den 90er-Jahren als Präsidentin der „Schweizerischen Vereinigung Eltern gegen Drogen“ eingesetzt. Die Jugendzeit unserer Kinder fiel in die Zeit des Platzspitzes in Zürich und des Kocherparks in Bern, in eine Zeit der Verharmlosung und grossen Verfügbarkeit von Drogen. Dank unseres Engagements konnten die Cannabis-Legalisierungs-Initiative mit 63 Prozent und die „Droleg-Initiative“ mit 74 Prozent abgelehnt und abstinenzorientierte Therapiemöglichkeiten aufgezeigt werden.

Zukunft CH: „Die Prophetin gilt im eigenen Land wenig bis nichts“, so ein Untertitel in Ihrem Buch. In welchen Bereichen erlebten Sie dies als besonders schmerzhaft?

Geissbühler: Die Bildungsreformen wie die Integration der Kleinklassenschulkinder in Regelklassen, das Frühsprachenlernen, die Früheinschulungen von Vierjährigen und den Lehrplan 21 erklärte ich als nicht zielführend. Ich tat dies anhand von wissenschaftlichen Studien sowie mit Fakten zur Entwicklung der Kinder. Gegen die Einführung dieser vier einschneidenden Reformen hatte ich hunderte von Unterschriften für Referenden gesammelt und politische Vorstösse im Grossen Rat eingereicht. Doch alle Reformen wurden – trotz Widerstand auch seitens vieler Lehrpersonen – im Kanton Bern eingeführt. Die vielen psychisch kranken, überforderten Kinder und Lehrpersonen tun mir leid und hätten verhindert werden müssen.

Zukunft CH: An welche Begebenheit aus Ihrer langen Zeit als Berner Grossrätin denken Sie besonders gerne zurück?

Geissbühler: Ich liebte vor allem den Kontakt zur Landbevölkerung. Sie lebt noch die Schweizer Traditionen, mit welchen ich mich identifizieren kann. Oft sind Anlässe musikalisch umrahmt; zum Beispiel mit einem Handorgel-Trio oder einem Jodelchörli. Worte wie aus dem Lied „E gschänkte Tag: Wenn der Himmel voller Wulche steit, git es Tage wo di nüt meh freut; de vergiss im Läbe nie, dass alli Wulche wyter zieh. Bringt e ruche Luft dir Froscht und Schnee, chasch dy Wäg und ou dys Ziel nid gseh, ja de chunnt ou Mal die Zyt, wo’s wieder Alperose git“ von A. Stähli waren in der rauen Politwelt Balsam für meine Seele.

Zukunft CH: Was würden sie jungen Leuten raten, die es sich überlegen, in die Politik einzusteigen?

Geissbühler: Zuerst würde ich Lebenserfahrungen sammeln und dann als gefestigte Persönlichkeit mit klaren Werte- und Haltungsvorstellungen die verschiedenen Programme und Abstimmungsempfehlungen der Parteien studieren und verfolgen. Erst danach empfehle ich einen Einstieg in einen Parteivorstand in der Wohngemeinde und damit eine Mitgestaltung der Zukunft, der Zukunft unsere Kinder.

Sabina Geissbühler-Strupler ist ausgebildete Primar- und eidg. diplomierte Turn- und Sportlehrerin. Die langjährige Berner Kantonsrätin ist verheiratet und Mutter von einer Tochter und drei Söhnen sowie Grossmutter von sieben Enkelkindern. Ihr Buch „Kein Weg ist zu weit“ wurde im September 2023 von der Schweizerischen Literaturgesellschaft herausgegeben und ist im Buchhandel erhältlich.