„Ich habe mich immer gefragt, welches Menschenbild, welches Weltbild dem Lehrplan 21 zugrunde liegt?“, sagt der Bildungsexperte Dr. phil. Carl Bossard. Seit Jahren engagiert er sich für eine gute Schul- und Bildungspolitik, die Lehrern und Schülern gerecht wird. Bossard kennt das Schweizer Bildungswesen aus einer langjährigen Berufserfahrung. Er war Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug und als Rektor der kantonalen Mittelschule Nidwalden und Direktor der Kantonsschule Luzern tätig – und hat immer selber auch unterrichtet. Heute begleitet er Schulen, leitet Weiterbildungskurse und beschäftigt sich mit schulgeschichtlichen sowie bildungspolitischen Fragen. Ralph Studer von Zukunft CH spricht mit dem Bildungsexperten über die „heissen Eisen“ der heutigen Schul- und Bildungspolitik.
Zukunft CH: Vom Schriftsteller Lukas Bärfuss stammt der Satz: „Ich brauchte keinen Stundenplan, ich brauchte keinen Lehrplan. Was ich hingegen nötig hatte, das waren Lehrer.“ Was zeichnet die pädagogische Grundhaltung eines guten Lehrers aus?
Bossard: Lukas Bärfuss zielt auf den Kern der Schule: gute Lehrerinnen, engagierte Lehrer. Ohne sie ist eine gute Schule nicht möglich. Freimütig bekennt Bärfuss: “Ich weiss nicht, was aus mir geworden wäre, wenn meine Lehrer ihre Leidenschaften nicht mit mir geteilt hätten, ihre Begeisterung, ihr Unverständnis, aber auch ihren Ärger, die Angst und das Staunen.“
Solche Lehrer führten Bärfuss zu Gedichten, sie führten ihn zu neuen Sichten, sie führten ihn in andere Welten. Sie begeisterten ihn für Dinge, die er gar nicht kannte, weil seine Neigung ihn nie dorthin geführt hätte. So beispielsweise ein „Stellvertreter in der siebten Klasse, ein Mann mit Bart, der uns Gedichte vorlas. Nicht etwa, weil sie im Lehrplan standen. Er las uns Gedichte vor, weil er Gedichte liebte. Gedichte waren ihm wichtig, lebenswichtig. Und er teilte im Grunde auch keine Gedichte mit uns. Er teile seine Liebe, er teilte seine Leidenschaft.“
Die Politphilosophin Hannah Arendt formuliert es so: Die Leidenschaft fürs Pädagogische entsteht aus der Leidenschaft für die Welt. Es ist diese Grundhaltung, die einen guten Lehrer, eine engagierte Lehrerin auszeichnet.
Zukunft CH: In der grössten je durchgeführten Meta-Studie kam der neuseeländische Schulforscher John Hattie zum Schluss, dass der entscheidende Faktor für den Lernerfolg der Lehrer sei. Trotz dieser Erkenntnisse soll der Lehrer heute nur noch „Coach“ sein. Woran liegt das?
Bossard: Lukas Bärfuss bestätigt den Bildungsforscher John Hattie. Die Leidenschaft seiner Lehrer habe nicht nur in der Literatur gewirkt, „für die ich vielleicht von Natur aus eine gewisse Prädisposition besass“. Weiter brachte ihn diese Leidenschaft auch in Fächern, die ihm weniger lagen, die ihm gar zuwider waren; davon ist Bärfuss überzeugt.
Gerade darum bräuchten Kinder Lehrer. Sie bräuchten Pädagogen, die sie führen, hinführen, hinanführen. Führen, nicht betreuen. Anleiten, nicht begleiten.
Eine Einsicht, die auch die empirische Unterrichtsforschung bestätigt: Wichtig und wirksam sind angeleitete und strukturierte Lernprozesse. Sie erzielen hohe Effektwerte. Darum erstaunt es immer wieder, wie viele Schulreformen und Lehrmethoden jegliches pädagogische Denken und Handeln ausschliesslich vom Lernenden her sehen und damit das Sowohl-als-auch negieren. Sie reduzieren die Bedeutung des Lehrers und degradieren ihn zum blossen Lernbegleiter. Die Verantwortung fürs Lernen wird wegdelegiert – an das Kind und vermehrt auch an die Maschine.
Der Lehrer wird „zum Lerncoach, welcher die Kinder auf Augenhöhe begleitet“. So formulierte es vor Kurzem ein Stadtluzerner Schulleiter. Allein ist er mit seiner Aussage nicht. Er artikuliert lediglich, was eine aktuelle Didaktik fordert und Pädagogische Hochschulen vielfach lehren: Lehrer dürfen nur noch begleiten. Sie sind Coachs auf einer gleichen symmetrischen Ebene wie die Kinder. Die Schüler lernen selbstorientiert.
Zukunft CH: Werden die Schüler dadurch nicht überfordert?
Bossard: Genau. Wer so argumentiert, vergisst das asymmetrische personale Verhältnis im Kernbereich Unterricht – und nicht zuletzt die Bedürfnisse der Schüler. Er missachtet den Unterschied zwischen Lehrer und Schüler. Augenhöhe impliziert eben Symmetrie. Auf Augenhöhe sollen sich Respekt und Vertrauen abspielen, nicht aber die Lehr- und Lernprozesse. Pädagogische Prozesse sind asymmetrisch; sie sind gekennzeichnet durch Kompetenzdifferenz. Ziel ist die Autonomie, Ziel ist die Symmetrie, aber der Weg dorthin ist asymmetrisch. Und darum kann selbstgesteuertes Lernen nicht anfängliche Lernmethode für alle sein, wohl aber Ziel. Heute aber werden Ziel und Weg vielfach verwechselt.
Zukunft CH: „Computer und Tablets haben im Schulunterricht nichts verloren“, plädierte unlängst Ralf Lankau, Professor an der Fakultät Medien der Hochschule Offenburg. Während skandinavische Länder zurückrudern, statten viele Schweizer Kantone die Schulen weiterhin mit Tablets aus. Ein Irrweg?
Bossard: Digitale Medien gehören längst zum Alltag der Kinder. Sie wachsen mit Handys auf. Keine Frage. Eine andere Frage ist, ob Primarschulen so intensiv auf Computer, Tablets und Smartphones setzen müssen, dass jeder über ein eigenes Gerät im Schulzimmer verfügt. Die skandinavischen Länder gehen den Weg zurück: Sie setzen wieder auf Papier und Stift. Sie wissen um den Wert der „denkenden Hand“.
Wir Menschen begreifen vieles über die Hand. Der Stift sei wirksamer als die Tastatur, sagt die renommierte amerikanische Studie „The Pen is mightier than the Keyboard“. In diesem Sinne hat die Schule auch eine gegenhaltende Aufgabe. Das ist wesentlich: Pädagogik ist keine Entweder-oder-Praxis. Es gilt wohl das, was für die Pädagogik ganz generell gilt: ein Sowohl-als-auch. Papier und Tablet. Schreiben mit der Hand und Tippen. Das muss der Weg der Schule im digitalen Zeitalter sein.
Zukunft CH: Nach Schätzungen des Bundesamts für Statistik fehlen in der Schweiz bis zum Jahr 2031 9000 bis 13‘000 Lehrer. Wo liegen die tieferen Ursachen des Lehrermangels?
Bossard: Wir müssen zwingend die Bedingungen im Klassenzimmer verbessern: Die maximierte Heterogenität führt zu grossem zusätzlichem Aufwand, sodass der Unterricht oft zu kurz kommt. Das zeigt die Praxis, das beklagen Lehrer, das beanstanden Eltern. Der Schlüssel liegt bei besseren Bedingungen. Wir bilden nicht zu wenig Lehrer aus; zu viele verlassen die Schule zu schnell wieder oder reduzieren ihr Pensum.
Zukunft CH: Das Bildungsideal hat sich um 180 Grad gedreht: von der „Bildung einer Persönlichkeit“ zum Schüler als „Problemlöser“ im Lehrplan 21. Wird der Mensch damit auf seine Funktionalität reduziert?
Bossard: Im Lehrplan 21 wird das Rätselwesen Mensch auf den Kompetenzbegriff reduziert, aufs Können und die Überprüfbarkeit dieses Könnens. Die Welt erscheint im Wesentlichen als ein gigantischer Problemberg, an dem nichts anderes zu tun ist, als die Probleme zu lösen. Problemlösen ist wichtig, unbedingt! Aber die Welt lädt uns noch zu ganz anderem ein, und die Welt ist nicht einfach ein Problemberg. Das Kuriose dabei: Alles wird dann zum Problem, auch die Grammatik ist ein Problem, das Zeichnen, das Erzählen.
Ich habe mich immer gefragt, welches Menschenbild, welches Weltbild dem Lehrplan 21 zugrunde liegt? Wissen nur aufs Können, sozusagen aufs Instrumentale oder Funktionale zurückzuführen, ist meines Erachtens banausisch. Der Mensch ist mehr als nur ein Behälter von sicheren Kompetenzen. Das Ich besteht doch auch in der Kunst, sich zu verlieren an etwas anderes, an etwas, das grösser ist als dieses winzige Ich, an die Kunst, an Beethovens Neunte beispielweise, an Literatur, an eine Aufgabe.
Kurz: Bildung kann nicht das sein, was ich kompetenzmässig in den Griff kriege. Bildung ist auch leidenschaftliche Hingabe, Staunen, Neugier. Kompetenz zeigt sich nicht nur in dem, was ich kann und weiss, sondern auch in dem, was ich bin. Und das ist kompetenztheoretisch gar nicht fassbar.
Zukunft CH: Eine Studie, die hohe Wellen geschlagen hat, war die 2014 erschienene Studie „Beyond Age Effects“ der Linguistin Simone Pfenninger. Diese ergab, dass es besser ist, eine Sprache möglichst konzentriert zu lernen als möglichst früh. Hat man keine Lehren aus dieser Studie gezogen?
Bossard: Seit Langem weiss man um den minimen Wirkeffekt vor allem von Frühfranzösisch. Die Langzeitstudie „Beyond Age Effects“ der Zürcher Linguistin Simone Pfenninger wies dies nach; sie stellte den propagierten Wert der frühen Fremdsprachen in Frage. Die Bildungspolitik hat diese Studie konsequent negiert. Wissenschaftler, die den Wert der frühen Fremdsprachen anzweifelten, wurden unter Druck gesetzt und diskreditiert. Das erinnert an Christian Morgenstern messerscharfen Schluss, „dass nicht sein kann, was nicht sein darf“.
Zukunft CH: Das FDP-Positionspapier vom Juni 2024 zur Volksschule sorgt für Aufsehen. Darin heisst es u.a.: „Dis Volksschule soll nicht jeden gesellschaftlichen Trend aufnehmen, sondern wieder vermehrt das Erlernen der Grundkompetenzen ins Zentrum stellen.“ Werden die Grundkompetenzen heute nicht mehr gelehrt?
Bossard: Die elementaren Kulturtechniken Lesen und Rechnen, Schreiben und Sprechen werden sicher gelehrt – nur nicht überall mit der notwendigen Intensität. Die Überfülle an Inhalten und Aufgaben mit den zwei frühen Fremdsprachen und den vielen zusätzlichen Aufgaben lässt das gar nicht zu. Üben und Festigen gehören aber zum schulischen Alltag. Das braucht Zeit. Und die fehlt vielfach.
Das bildungspolitische Grundsatzpapier der FDP Schweiz kommt nicht aus heiterem Himmel. Es ist eine Reaktion auf die nachlassende Wirkkraft der öffentlichen Volksschule.
Zukunft CH: Kritiker fordern schon lange ein Ende der seit Jahren dauernden Schulreformen. Was haben diese gebracht, insbesondere der Lehrplan 21?
Bossard: Viele Lehrerinnen und Lehrer spüren, dass die zahlreichen Reformen der vergangenen Jahre das Lernen entsystematisiert haben, und zwar über eine zu starke Individualisierung und das Selbstorganisierte Lernen SOL, die Abwertung der Lehrer zum begleitenden Coach und durch die gesteigerte Heterogenität in den Klassen.
Vor dieser Entsystematisierung des Lernens haben namhafte Bildungsforscher schon früh gewarnt, u.a. Prof. Franz E. Weinert, Gründungsdirektor des Max-Planck-Instituts für psychologische Forschung in München. Die Folgen zeigen sich in den internationalen Vergleichsstudien PISA oder beispielsweise in den Klagen von Lehrmeistern und Hochschuldozenten. Auch die rasante Zunahme privater Lerninstitute ist ein Alarmzeichen. Gefragt wären ein Gegenhalten und eine Konzentration auf lernwirksames Unterrichten mit klaren Verbindlichkeiten.
Zukunft CH: Was wünschen Sie sich für die heutige Schul- und Bildungspolitik? Was für die Lehrer, was für die Schüler?
Bossard: Dazu kehre ich an den Anfang zurück. In seiner „Ode an die Lehrer“ schreibt der Schriftsteller Lukas Bärfuss am Schluss:
Kinder brauchen Erwachsene
die ihnen zeigen
wie das gehen könnte
dieses Spiel
ein Mensch zu werden.
Dass möglichst alle Kinder und Jugendlichen dieses Glück haben, das wünsche ich mir. Treffend sagte es der Lernforscher und Berner Hochschullehrer Hans Aebli: „Wo eine gute Lehrerin, ein guter Lehrer am Werk ist, da wird die Welt ein bisschen besser.“
Zukunft CH: Vielen Dank für das Gespräch.