Der Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug, Dr. phil. Carl Bossard, ist ein Mann mit Herz und Leidenschaft für die Schule und für die Schüler. Er plädiert für angeleitetes und strukturiertes Unterrichten und lehnt die Reduktion des Lehrers auf einen Lerncoach ab. Damit werde “die Verantwortung fürs Lernen wegdelegiert – an das Kind und vermehrt auch an Maschinen”. Bossard fragt sich auch nach dem Menschenbild im aktuellen Lehrplan. Im Lehrplan 21, so der Bildungsexperte, werde der Mensch seines Erachtens aufs Können reduziert.    

Zukunft CH: Herr Bossard, in Ihren Beiträgen und Vorträgen sprechen Sie oft davon, dass sich schulische Bildung im Dreieck zwischen Lehrer, Kind und Unterrichtsinhalt vollziehe. Was meinen Sie damit genau?

Bossard: Lassen Sie mich die Frage anhand eines Beispiels erläutern: Jeder junge Mensch hat nur eine Bildungsbiographie. Darum ist es so entscheidend, wer im Schulzimmer steht – und wie diese Person wirkt. Erfahren hat das auch der Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel, später selber Lehrer. Er erzählt: „Ich hatte in der 5. und 6. Klasse in Olten einen wunderbaren Primarlehrer: Er hat mich von mir selber überzeugt, mich zum Schriftsteller gemacht. Weil er unter dem ganzen Schlamassel von Rechtschreibefehlern entdeckt hat, dass ich gute Aufsätze schreibe. Ich habe ihn geliebt.“ Hieran lässt sich das wichtige Zusammenspiel zwischen dem Schüler Peter Bichsel, seinem Lehrer und dem Unterrichtsinhalt, hier das Texteschreiben, verdeutlichen.

Zukunft CH: Warum ist dieses Zusammenspiel von Lehrer-Schüler-Unterrichtsinhalt für den Lehrerfolg so entscheidend?

Bossard: Zentrale Aufgabe der Schule ist es, die jungen Menschen zu sich selbst und gleichzeitig aus sich heraus zu ihren Möglichkeiten, zu ihren Potenzialen zu führen, wie das Bichsels Lehrer getan hat. In diesem Zusammenspiel von Lehrer-Schüler-Unterrichtsinhalt vollziehen sich die individuellen und sozialen Lern- und Bildungsprozesse. Hier wird die Grundbildung als Basis für alles weitere Lernen gelegt. Hier werden beispielsweise die elementaren Kulturtechniken Lesen, Schreiben, Rechnen aufgebaut. Dazu gehören das Verstehen und Konsolidieren, das Festigen und Üben von Wissen und Können und das Anwenden des Gelernten. Es sind die drei grossen G: Grundkenntnisse, Grundfähigkeiten, Grundhaltungen: Man muss etwas wissen, man muss etwas können, und beides zusammen soll uns besser denken und handeln lassen.

Zukunft CH: Kommen Lehrer heute überhaupt noch zu diesen Lernprozessen?

Bossard: Der Wesenskern der Schule ist heute durch die teilweise wenig koordinierten und überladenen Reformen gefährdet. Über Jahre hinweg hat die heutige Schule viele spürbare Veränderungen erlebt: zusätzliche Fächer mit den zwei frühen Fremdsprachen Englisch und Französisch in der Primarschule, das ganze Qualitätsmanagement, altersdurchmischtes oder jahrgangsübergreifendes Lernen, der Lehrplan 21 mit den eng gerasterten, dreigestuften Kompetenzen und ihren Kontrollen, die Integrative Schule mit dem Ziel der Inklusion und den vielen Absprachen zwischen den zuständigen (Betreuungs-)Personen pro Klasse. Das alles führt zu mehr Vorgaben und Vorschriften von oben und zu einem Ausbau der Bildungsbürokratie.

Zukunft CH: Was bedeutet das für den Unterricht?

Bossard: Manches ist dazugekommen – weggenommen wurde wenig. Die Folgen sind spürbar: Druck und Hektik steigen, Verweilen und Vertiefen des Unterrichtsstoffs nehmen ab. Viele Inhalte können nur noch flüchtig gestreift werden. Sie prägen sich nicht tief ein und bleiben deshalb Bruchstück. Zu vieles muss von den Kindern in zu kurzer Zeit in Eigenverantwortung und Selbststeuerung erarbeitet werden. Lernschwächere und mittelmässige Schüler sind dabei benachteiligt. Das zeigt die Unterrichtsforschung. Darum erstaunt es nicht, dass selbst intelligente Kinder am Ende der Primarschule in den Grundfertigkeiten des Rechnens und Schreibens oft grosse Lücken aufweisen. Wenn sie diese Grundlagen beherrschen, stehen nicht selten engagierte Eltern oder private Nachhilfeinstitute dahinter.

Zukunft CH: Eine Schwierigkeit ist heute auch, dass viele Kinder es nicht mehr schaffen, sich auf eine längere Aufgabe zu konzentrieren. Deshalb wird zunehmend ein Handyverbot in Schulen gefordert. Sind solche Verbote sinnvoll?  

Bossard: Die Konzentrationsmühen der Kinder spüren viele Lehrer. Das Handy ist nicht der einzige Ablenkungsgrund. Soll man es verbieten? Ich votiere aus einer liberalen Haltung heraus. Die Schüler zu selbständigem und verantwortungsbewusstem Handeln zu erziehen und zu bilden, ist ein dialektischer Prozess. Sie müssen lernen, mit den neuen Medien vernünftig umzugehen – und auch den Versuchungen zu widerstehen. So etwas geht nur über Anleitung, nicht über Verbote.

Zukunft CH: Kinder und Jugendliche im Unterricht bei der Stange zu halten, ist für die heutigen Lehrer eine grosse Herausforderung. Wie kann dies gelingen?

Bossard: Das ist für alle Lehrer eine anspruchsvolle Aufgabe – zumal der einzelne Klassenverband heute meist sehr heterogen zusammengesetzt ist und in hohem Masse individualisiert werden muss. Doch das ist mit hohem Energieaufwand auf Seiten der Lehrer verbunden und einer gekonnten Führung im Klassenzimmer.

Zukunft CH: „Es ist ein Fakt,“ sagt die Zürcher Bildungsdirektorin Silvia Steiner, „dass rund 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen nicht mitkommen, egal in welchem Schulsystem.“ Spielt das Schulsystem für den Lernerfolg keine Rolle?

Bossard: Der Satz von Regierungsrätin Silvia Steiner, Präsidentin der Erziehungsdirektorenkonferenz EDK Schweiz, ist für mich unverständlich, ja fahrlässig. Entscheidend ist doch nicht das Schulsystem, entscheidend sind die Lehrer. Das wissen wir aus der Unterrichtsforschung.

Auch der Praxistest zeigt es: Vor einigen Jahren dokumentierte ein Filmexperiment im südschwedischen Malmö eine ganz schwierige Klasse. Sie war verschrien und der Unterricht mit ihr gefürchtet. Im neunten Schuljahr erhielten diese Problemschüler neue Fachlehrer. Erfahrene und pädagogisch versierte. Innerhalb kürzester Zeit veränderte sich das Leistungsbild dieser Gruppe zum Positiven. Dieses Beispiel zeigt deutlich, dass es auf die Lehrer und ihren Unterricht ankommt. Die Lernprozesse sind’s, nicht die Strukturen!

Zukunft CH: „Buben sind die Bildungsverlierer des vergangenen Jahrzehnts“, sagt der Jugendpsychologe Allan Guggenbühl. Die vielen Schulreformen hätten sich ganz nach den Bedürfnissen der Mädchen gerichtet. Ist die heutige Schule jungenfeindlich?

Bossard: Allan Guggenbühls Aussage kann ich nachvollziehen. Mit den zwei frühen Fremdsprachen ist unsere Primarschule sehr sprachlastig geworden. Realienfächer wie Geschichte beispielweise werden an den Rand gedrängt. Die Reformen favorisieren die Mädchen.

Zukunft CH: In Basel-Stadt und Zürich fordern Volksinitiativen die Wiedereinführung der Förderklassen. Die Studie von Balestra, Eugster und Liebert, auf die sich Befürworter von Förderklassen stützen, zeigt, dass Förderkinder die Leistungen und das Fortkommen der anderen Schüler negativ beeinflussten, sofern es mehr als drei oder vier pro Klasse sind. Die Auswirkungen sind unterschiedlich: Gute Schüler sind kaum betroffen, schwächere hingegen stark. Scheitert das Konzept der integrativen Schule an der Realität?

Bossard: Die Menschen stehen immer zwischen Ideal und Wirklichkeit. Die Wirklichkeit besteht eben aus Realität und Idealität. Das gilt wohl auch für das Ideal der Integration und Inklusion: Begabte Kinder, lernbehinderte Jugendliche, verhaltensauffällige Störenfriede, junge Menschen mit psychischen Problemen – sie alle sollen in der gleichen Klasse Platz finden und gemeinsamen Unterricht erhalten. So will es das Ideal.

In der Wirklichkeit bringt dieses Konzept viele Lehrer und ganze Klassen an die Grenze. Das zeigte neulich eine Umfrage des Vereins Starke Schulen beider Basel. Die Integration von renitenten Kindern und solchen mit Lernbehinderungen senke das Leistungsniveau. 90 Prozent der befragten Lehrer verlangen darum Anpassungen. Dass Volksinitiativen die Wiedereinführung von Kleinklassen fordern, ist verständlich.

Zukunft CH: Führt nicht gerade die integrative Schule in eine „Zweiklassengesellschaft“ und zur Benachteiligung und Stigmatisierung verhaltensauffälliger Kinder?

Bossard: Wir wissen, dass lernschwächere Kinder oft einen geschützten Raum brauchen, einen „Safe Place“, wie es heute heisst. Anders gesagt: Sie fühlen sich in einer separaten Klasse wohler. Hier können sie, von verständnisvollen Lehrern angeleitet und begleitet, bessern lernen. Sie sind dabei nicht dauernd dem Druck der ihnen schulisch überlegenen Kameraden und dem leistungsmässigen Vergleich ausgesetzt. Und sie werden im “normalen” Unterricht nicht separat unterrichtet oder müssen mit der Heilpädagogin das Schulzimmer gar verlassen. Für viele ist das demütigend. Sie werden häufig gar “gehänselt“, wie mir eine engagierte 5./6. Klassenlehrerin vor Kurzem erzählt hat. In der Debatte um die Integration geht das gerne vergessen.

Die Befürworter der forcierten Integration argumentieren: Ein solcher „Safe Place“, sprich eine separate Förderklasse, führe zur Stigmatisierung dieser Kinder. Das mag in Einzelfällen leider vorkommen; die Regel ist es sicher nicht. Förderklassen haben ihren Wert. Das wissen wir von erfahrenen Lehrpersonen und auch von Eltern solcher Kinder.

Zukunft CH: Einen häufigen Streitpunkt bilden die unterschiedlich verstandenen Begriffe „Bildungsgerechtigkeit“ und „Chancengleichheit“. Was bedeuten die Begriffe für Sie? Ist die Chancengleichheit in der Schule überhaupt ein erstrebenswertes Ziel? 

Bossard: Das sind in der Tat schwierige Begriffe. Was konkret bedeutet denn Bildungsgerechtigkeit? Zuteilende Gerechtigkeit? (Um-)verteilende Gerechtigkeit oder gar ausgleichende Gerechtigkeit? Ich selber bevorzuge den Begriff der Chancengleichheit. Der Start soll für alle gleich sein, die Wege sind unterschiedlich. Entscheidend ist und bleibt die Lernleistung. Sie ist der einzig sozialneutrale und damit demokratiegemässe Massstab. Wo aber wird nach Lernleistung gemessen? In der Schule, nur in der Schule.

Wir werden die Chancengleichheit vermutlich kaum je erreichen, aber es ist die richtige Ambition. Und sie bleibt als Aufgabe einer jeden Lehrerin, eines jeden Lehrers. Darum sind die Lehrer für die Lernprozesse so eminent wichtig – gerade für sozial eher benachteiligte Kinder.

Zukunft CH „Jugend ohne Geschichte“ titelte die NZZ im Februar 2024 und zeigte den Bedeutungsverlust des Fachs Geschichte in der Schule in den letzten Jahren auf. Auch Sie sagen: „Die Bildungspolitik hat Geschichte systematisch abgewertet.“ Steht das Fach Geschichte vor dem Ende?

Bossard: Als eigenes Fach erschien Geschichte den Schulreformern entbehrlich. Die Bildungspolitik schaffte es ab und schuf sogenannte Sammelfächer: „Natur, Mensch, Gesellschaft“ für die Primarschule, „Räume, Zeiten, Gesellschaften“ für die Oberstufe. Sobald aber eine Disziplin als eigenständiger Bereich verschwindet, verschwindet auch der Inhalt. In den Köpfen der Kinder und Jugendlichen sowieso.

Vor solchen Sammelfächern warnte darum der renommierte Entwicklungspsychologe Franz E. Weinert: „Fächer sind als Wissenssysteme unerlässlich für kognitives Lernen. Es gibt überhaupt keinen Grund für einen heterogenen Fächer-Mischmasch.“ Pikanterweise berufen sich die Gestalter des Lehrplans 21 immer wieder auf Weinert. Das progressive deutsche Bundesland Hessen schaffte das Fach Geschichte vor einigen Jahren ab, führte es in der Zwischenzeit aber wieder ein – durch Aktualität eines Besseren belehrt. Geschichte als Gegenstand war praktisch verschwunden. Ob die Schweizer Bildungspolitik diesen Mut aufbringt? Dringend nötig wäre es.

Zukunft CH: Welche Folgen hat dies für die Schweiz?  

Bossard: Wir können unser Land nur verstehen, wenn wir etwas von seiner Geschichte verstehen. Ein Beispiel: Der Abschnitt zwischen 1798 und 1848 ist eine der spannendsten Epochen der Schweizer Geschichte. Die Zeitspanne beinhaltet den kräftigen Konflikt zwischen zentralem Einheitsstaat und lockerem Staatenbund, den Streit zwischen dem französisch-napoleonischen Zentralismus – symbolisiert im Apfel – und dem alteidgenössischen Föderalismus – in Gestalt der Traube. Der 50-jährige Kampf zwischen Apfel und Traube, zwischen dem Einheitsstaat und der alten föderalen Struktur ist intensiv. Es kommt zu Sonderbünden. Es gibt Krieg; es fliesst Blut. Und wieder droht der Bruch. Der Bundesstaat von 1848 bringt den Kompromiss. – in Form der Orange: Die Haut symbolisiert den Bund, die Schnitze stehen für die Kantone. Konkret: Die Schweiz, ein vielfältiges Land mit möglichst autonomen Gliedstaaten oder eben Kantonen, dies dank einer föderativen Staatsstruktur.

So verstehen wir, wie aus dem alten Staatenbund des Ancien Régime über den helvetischen Einheitsstaat von 1798 der heutige Bundesstaat von 1848 geworden ist. Dies ist nur ein Beispiel, aber ein wichtiges, und darum darf es keine Geschichtsvergessenheit geben.

Zukunft CH: Wie viel Bildung ist nötig für ein gutes Leben?

Bossard: Wohl die schwierigste aller Fragen. Bildung lässt sich nicht quantifizieren. Sie steht weder in direkter Korrelation zu irgendwelchen Diplomen und Zertifikaten, noch ist sie an die Anzahl absolvierter Schuljahre gebunden. Und doch spielen Lehrerinnen und Lehrer eine wichtige Rolle. Es ist Aufgabe aller Pädagogen, die Kinder und Jugendlichen zu selbständigem und verantwortungsbewusstem Handeln zu erziehen und zu bilden. Bilden selber kann sich jeder Einzelne zwar nur selber, aber das anregende Visavis, sprich der Lehrer, ist und bleibt dabei bedeutsam. Peter Bichsels Lehrer erinnert daran – und mit ihm viele andere engagierte Pädagogen auch.

Zukunft CH: Vielen Dank für das Gespräch.