Seit einigen Jahren macht sich in den westlichen Ländern zunehmend das Credo breit, dass jeder Mensch selbst bestimmen soll, wie und zu welchem Zeitpunkt er sein Leben beenden will. In den Niederlanden darf mittlerweile das Leben eines Kindes mit „aller nötigen Sorgfalt“ – so formuliert es die Regierung – beendet werden, wenn beim Neugeborenen Beschwerden vorliegen, die als „unerträglich und ohne Aussicht auf Besserung“ erachtet werden. Aber ist die sogenannte „Sterbehilfe“ tatsächlich die Lösung? Und ist sie mit der menschlichen Würde und Freiheit zu vereinbaren? Ralph Studer im Gespräch dazu mit Pfr. Michael Freiburghaus, Präsident von Zukunft CH.
Zukunft CH: Entwicklungen wie in den Niederlanden lassen die Sterbehilfe in immer mehr Fällen und immer früher im Leben zu. Wie beurteilen Sie diese Tendenzen?
Freiburghaus: Mit grosser Besorgnis. Jedes menschliche Leben ist wertvoll. Gott hat uns das Leben geschenkt und nur er darf entscheiden, wann es zu Ende geht. In der Bibel sehen wir, dass Gott auch Wunder vollbringt. Deswegen dürfen wir nicht ausschliessen, dass er auch in unserem Leben Wunder vollbringt. Dies kann entweder körperliche Heilung sein oder seelische Gesundung oder er schenkt uns die Kraft, sehr schwierige und scheinbar ausweglose Situationen auszuhalten. Insofern ist Sterbehilfe als Ausdruck des Zweifels zu sehen, dass man Gott misstraut, dass er einen guten Ausweg schaffen kann.
Beeindruckend ist auch die Aussage des Psychiaters Viktor Frankl (1905-1997), der unter den Nationalsozialisten vier Konzentrationslager überlebte: “Ich sehe zunehmend ein, dass das Leben so unendlich sinnvoll ist, dass auch im Leiden und sogar im Scheitern noch ein Sinn liegen muss.” Frankl war überzeugt von der Bedeutung und Einmaligkeit jedes Menschen, weshalb er den Suizid kategorisch ablehnte.
Zukunft CH: Hat der Glaube einen Einfluss, wie der Einzelne über Sterbehilfe denkt?
Freiburghaus: Ja, absolut. Gott ist die Quelle des Lebens und von daher prägt der Glaube die menschliche Sicht auf die Sterbehilfe.
Zukunft CH: Wie beurteilen Sie das Argument, dass ein Mensch ein Recht auf Autonomie hat und über sein Lebensende allein entscheiden soll?
Freiburghaus: Sterbehilfe wird von den Befürwortern als Ausdruck des menschlichen Selbstbestimmungsrechts gesehen. Stimmt dies wirklich? Wie frei sind Menschen tatsächlich, die sich mit der Entscheidung der Selbsttötung beschäftigen? Menschen, die unter unsagbaren Schmerzen leiden, die unheilbar krank sind und sich als Last für andere fühlen? Die Freiheit ist in solchen Situationen eingeschränkt bzw. sogar ausgeschaltet und wird nur allzu oft von einem „Tunnelblick“ überlagert. Die Selbsttötung erscheint als der einzige Ausweg. Von einer freiheitlichen Handlung kann hier kaum die Rede sein, vielmehr von einem Akt der Verzweiflung und Ausweglosigkeit.
Zukunft CH: Im Jahr 2022 haben sowohl der Zürcher Kantonsrat als auch das Walliser Stimmvolk entschieden, dass öffentliche Alters- und Pflegeheime Sterbehilfe in ihren Räumlichkeiten zulassen müssen. Ich nehme an, Sie hätten anders entschieden.
Freiburghaus: Definitiv. Die Sterbehilfe im Alters- oder Pflegeheim anzubieten, lehne ich ab. Solchen Entwicklungen sollten wir als Gesamtgesellschaft entschieden den Riegel schieben! Dies umso mehr, wenn wir uns die möglichen Folgen einer solchen Entwicklung vor Augen halten: Unsere Sicht auf das Leben wird sich zwangsläufig verändern.
Zukunft CH: Inwiefern?
Der Wert des Lebens wird zweifellos weiter gemindert, wenn Sterben eine mögliche Option wird. Aus einem Recht auf Suizidhilfe kann dann schnell auch die Pflicht zur Rechtfertigung folgen, warum man diese nicht auch in Anspruch nimmt. Man stelle sich nur eine Situation vor, in der die betroffene Person sich als Last für die Umwelt sieht und von ihrem Umfeld allein gelassen bzw. unter Druck gesetzt wird.
Auch der Druck auf das Personal in Spitälern und Heimen, beim Suizid zu assistieren, dürfte steigen, wenn das Recht auf Suizidhilfe zur „normalen“ Möglichkeit am Lebensende wird. Dazu kommt, dass Familienangehörige und Freunde unter der Selbsttötung eines Nahestehenden leiden und sich Fragen nach dem Warum stellen. Verlängerte Trauer wie auch Depressionen können die Folge sein. Der Suizid löst den jeweiligen Menschen zwar von der Welt, aber er löst ihn nicht aus seinen sozialen Banden.
Zukunft CH: Sie sprechen einen wichtigen Punkt an: Sterbehilfe könnte also den Druck auf die Betroffenen erhöhen, aus dem Leben zu scheiden?
Freiburghaus: Ja. Es ist zu befürchten, dass ältere Menschen sich unter Druck fühlen, weil ihr Aufenthalt im Alters- oder Pflegeheim das mögliche Erbe der Kinder aufbraucht. Deswegen fühlen sich einige betagte Menschen genötigt, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen, um ihren Kindern nicht weiter finanziell zur Last zu fallen. Angesichts der steigenden Kosten im Sozial- und Gesundheitsbereich könnten auch politische und wirtschaftliche Abwägungen diese Tendenz verschärfen.
Zukunft CH: Die Sterbehilfeorganisationen verzeichnen steigende Zahlen. Gemäss eigenen Angaben hat „Exit“ im Jahr 2023 bei 1252 Menschen Sterbehilfe geleistet und zählte Ende 2023 167‘631 Mitglieder. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?
Freiburghaus: Wird die Arbeit von Sterbehilfeorganisationen weiter etabliert, ist auch zu befürchten, dass das bis anhin geltende christliche Menschenbild in unserer Gesellschaft weiter zurückgedrängt wird und damit auch die personale Würde, die jedem einzelnen Menschen als Abbild Gottes verliehen ist. Wohl deshalb ist die christliche Stimme mehr oder weniger noch die einzige, die sich für den unbedingten Schutz des menschlichen Lebens einsetzt und die Arbeit von Sterbehilfeorganisationen kritisiert. Geht diese Überzeugung verloren, geht auch die Achtung vor dem sterbenden Menschen und seinem Leben verloren. In seiner verabsolutierten Autonomie verliert der Mensch genau das, was er als Ausdruck seiner Entscheidung sieht: seine Freiheit.
Zukunft CH: Was ist also zu tun?
Freiburghaus: Aus der christlichen Nächstenliebe ergibt sich klar, dass wir besonders den schwerkranken und leidenden Menschen mit Hilfe und Solidarität begegnen und die Palliativmedizin stärken und ausbauen sollten. Unter Palliative Care verstehe ich dabei alle Massnahmen, die das Leiden eines unheilbar kranken Menschen lindern und ihm so eine bestmögliche Lebensqualität bis zum Ende verschaffen. Zudem braucht es dringend wieder eine Stärkung der familiären und gesellschaftlichen Bande. Der gegenwärtigen Entsolidarisierung mit kranken und leidenden Menschen ist unbedingt entgegenzuwirken.
Es ist eine der zentralen Aufgaben unserer Gesellschaft, Menschen, die sich aufgegeben haben, zu unterstützen und sie in ihrem Leid anzunehmen. Schenken wir den krisengeschüttelten Menschen Hoffnung, neuen Lebensmut und vor allem auch neue Perspektiven, dass diese wieder zu einem Ja in ihrem Leben finden.
Zukunft CH: Vielen Dank für dieses Gespräch.