Mit dem vom Bundesrat vorgeschlagenen Bundesgesetz über die Individualbesteuerung soll ein Wechsel von der gemeinsamen Besteuerung eines Ehepaares hin zu einer individuellen Besteuerung erfolgen. Damit will der Bundesrat die Heiratsstrafe bei der direkten Bundessteuer beseitigen. Allerdings schafft die geplante Reform gravierende Steuerungerechtigkeiten, über die kaum diskutiert wird. Dass diese Vorlage aktuell Gegenstand harter politischer Auseinandersetzungen ist, überrascht deshalb nicht.
Von Ralph Studer und Regula Lehmann
Auf seiner Webseite begrüsst das Eidgenössische Finanzdepartement (EFD) die geplante Einführung der Individualbesteuerung. Damit würde man die „die bestehende Ungleichbehandlung von verheirateten und unverheirateten Personen“ beseitigen. Zudem verbesserten sich „die Erwerbsanreize für Zweitverdienerinnen und Zweitverdiener bei Ehepaaren, weshalb mit positiven Beschäftigungseffekten zu rechnen ist“. Dies hänge damit zusammen, dass bei einer Aufnahme einer zweiten Erwerbstätigkeit oder bei einer Erhöhung des Zweitverdienstes auf das zusätzlich verdiente Einkommen geringere Steuerbelastung anfalle, so das EFD.
Konkrete Auswirkungen der Individualbesteuerung
Was euphorisch klingt, entpuppt sich allerdings bei genauerem Hinsehen als Reform mit gravierenden Schattenseiten. Von „Steuergerechtigkeit“ kann keine Rede sein. Wegen des Wegfalls des Verheiratetentarifs, der Steuerprogression und der hälftigen Aufteilung des Kinderabzugs könne, wie der Bundesrat selbst schreibt, für Ehepaare mit nur einem Einkommen oder einem niedrigen Zweiteinkommen die Reform zu Mehrbelastungen führen. Die grössten Entlastungen ergäben sich für Verheiratete mit gleichmässiger Einkommensverteilung zwischen den Eheleuten. Entlastet würden auch dank der Anpassung des Tarifs die meisten unverheirateten Personen ohne Kinder, so der Bundesrat.
Trotz dieser zustimmenden Äusserungen aus Bundesbern stehen Kantone und Steuerbehörden dieser Vorlage kritisch bis ablehnend gegenüber. Sie befürchten vor allem den Verlust ihres bewährten kantonalen Steuersystems, einen erheblichen Ausbau der personellen und finanziellen Ressourcen bei den Veranlagungsbehörden, stärkere juristische Komplexität und eine massive Zunahme der Bürokratie.
Benachteiligung der Einverdiener-Ehen
„Familien mit einem hohen und einem tiefen Arbeitspensum, die Kinder selbst betreuten, hätten das Nachsehen“, gibt SVP-Nationalrätin Monika Rüegger anlässlich der Ratsdebatte vom 16. September 2024 zu bedenken. Selbst Befürworter wie die Volkswirtschaftsprofessorin Monika Bütler sehen in der Einführung der Individualbesteuerung eine stossende Ungerechtigkeit. „Diese Ungleichbehandlung bei Familien mit Kindern“, so Bütler, „müssen wir diskutieren. Viele Befürworter der Individualbesteuerung hören das nicht gern.“ Unabhängig davon stört sich Bütler auch daran, „dass heute unter einem progressiven Familienmodell nur eine paritätische Aufteilung der Erwerbsarbeit verstanden wird.“
Rechtsanwalt Thomas Gabathuler und der ehemalige Direktor der Eidgenössischen Finanzverwaltung Serge Gaillard kommen zum gleichen Schluss: „Die Individualbesteuerung schafft neu eine massive Ungleichbehandlung zwischen Einverdiener- und Zweiverdiener-Ehepaaren.“ Anhand von Berechnungsbeispielen verdeutlichen sie, dass Einverdiener-Ehepaare das Dreieinhalb- bis Fünffache an Steuern bezahlen müssten im Vergleich zu Zweiverdiener-Ehepaaren mit gleichem Einkommen (entsprechende Berechnungsbeispiele im obigen Link bei Gabathuler/Gaillard).
Die beschriebenen Folgen würden noch dadurch verstärkt, dass auch die Kantone und Gemeinden die Individualbesteuerung einführen müssten, sollte die vom Nationalrat im Herbst 2024 verabschiedete Vorlage Gesetz werden. Gabathuler und Gaillard sagen deutlich: „Es kann davon ausgegangen werden, dass die Ungleichheit mit dieser Steuerreform in der Schweiz eher erhöht als reduziert wird.“
Bundesrätliche Argumentation zweifelhaft
Das Bundesgericht sah bis anhin in der Individualbesteuerung eine stossende Ungleichheit zwischen Einverdiener- und Zweiverdiener-Ehepaaren. Nach den Vorgaben des Bundesgerichts (BGE 120 Ia 329 E. 3) muss der Steuergesetzgeber darauf achten, dass Ehepaare untereinander und im Vergleich zu unverheirateten Paaren nach Massgabe der ihnen zustehenden Mittel gleichmässig belastet werden.
Selbst der Bundesrat sieht auf Seite 104 ff. in seiner Botschaft zur Individualbesteuerung (BBl 2024 589) vom 21. Februar 2024 diese Problematik und teilt die Ansicht, der verfassungsmässige Grundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit sei verletzt, wenn man ihn anhand der ehelichen (Wirtschafts-)Gemeinschaft betrachte.
Allerdings macht der Bundesrat dann eine Kehrtwende: Entgegen der bisherigen Rechtsprechung halte er diese Sichtweise jedoch nicht mehr für „zeitgemäss“. Wenn man jedoch von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Einzelperson und nicht von der ehelichen Gemeinschaft ausgehe, so der Bundesrat, dann sei mit der Individualbesteuerung der Grundsatz nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit gewahrt.
Seine Sichtweise begründet der Bundesrat damit, dass gemäss Bundesamt für Statistik die Erwerbstätigkeit der Frauen in den letzten Jahren massiv gestiegen sei und teilweise – je nach Alter/Kategorie – bis zu 74,7 Prozent betrage. Er sieht deshalb keinen Korrekturbedarf bei Einverdiener-Ehepaaren oder Ehepaaren mit geringem Zweiteinkommen.
Mit der vorgesehenen Neuregelung des Kinderabzugs kann sodann bei Ehepaaren mit nur einem Einkommen diejenige Person, die das Einkommen erzielt, nur die Hälfte des Kinderabzugs geltend machen, obwohl sie in den meisten Fällen vollständig für den Unterhalt des Kindes aufkommt. Demgegenüber kann eine alleinerziehende Person mit gleichem Einkommen, die ebenfalls vollständig für die Kinderkosten aufkommt, den ganzen Kinderabzug geltend machen.
Auch hier sieht selbst der Bundesrat einen Verstoss gegen den Grundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Er rechtfertigt dies jedoch damit, dass dies zulässig sei, solange eine bestimmte Gruppe von Steuerpflichtigen in genereller Weise nicht wesentlich stärker belastet oder systematisch benachteiligt werde.
Geplante Individualbesteuerung widerspricht Verfassung
Die Argumentation des Bundesrats im Zusammenhang mit der Erwerbsquote der Frauen ist aus mehrfacher Hinsicht nicht nachvollziehbar. Neben den 25,3 Prozent nicht erwerbstätiger Frauen geht ein bedeutender Teil der 74,7 Prozent erwerbstätigen Frauen nur einer Teilzeiterwerbstätigkeit nach und/oder erzielt lediglich ein geringes Zweiteinkommen. Auch letztere benachteiligt die Individualbesteuerung massiv.
Bei der zivilrechtlichen Ehe besteht eine gesetzliche Verpflichtung des erwerbstätigen Ehegatten für den Unterhalt der Familie aufzukommen, das heisst neben den Kindern auch für den Ehegatten. Wenn der Bundesrat nicht mehr von der Ehe als Wirtschaftsgemeinschaft ausgehen möchte, so müsste er erst diese Verpflichtung im Zivilgesetzbuch aufheben.
Sodann ist die vorgesehene Neuregelung des Kinderabzugs, wonach Einverdiener-Ehepaare nur noch den halben Kinderabzug geltend machen können, offensichtlich diskriminierend. Es ist nicht nachvollziehbar, wie der Bundesrat zum Schluss kommen kann, dass diese Regelung eine bestimmte Gruppe von Steuerpflichtigen nicht in genereller Weise wesentlich stärker belastet oder systematisch benachteiligt.
Damit verstösst der Bundesrat in doppelter Hinsicht gegen die Bundesverfassung (BV): Erstens verletzt er den Grundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Zweitens schafft er durch diese Vorlage die Ehe im Steuerrecht faktisch ab und missachtet damit auch den besonderen grundrechtlichen Schutz der Ehe, wie er in Art. 12 der Europäischen Menschenrechtskonvention und Art. 14 BV („Das Recht auf Ehe und Familie ist gewährleistet“) garantiert ist. Denn der Bundesrat hat auch bei steuerrechtlichen Vorschriften der Ehe Rechnung zu tragen und kann sich nicht einfach darüber hinwegsetzen.
Der Zweck heiligt nicht die Mittel
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese Verstösse gegen die BV in Kauf genommen werden, um die gesellschaftliche Zielsetzung der Vorlage unbedingt voranzubringen: Mehr Frauen und Mütter in den Arbeitsprozess. Dabei wird eines vergessen: Der Zweck heiligt nicht die Mittel. Verletzt eine Vorlage die BV, dann ist sie verfassungskonform anzupassen. Alles andere entbehrt jeglicher Rechtmässigkeit, verstösst gegen den Rechtsstaat und ist deshalb abzulehnen.
Stand der Verhandlungen im Parlament
Im Nationalrat waren die Fronten bei der Debatte um die Individualbesteuerung klar, die Stimmenverhältnisse jedoch knapp. Mit 98:93 Stimmen bei einer Enthaltung sprach sich eine knappe Mehrheit des Nationalrats anlässlich der Debatte vom 25. September 2024 für das „Bundesgesetz über die Individualbesteuerung“ und damit für die Einführung der Individualbesteuerung aus. Diese Vorlage ist ein indirekter Gegenvorschlag zur Volksinitiative der FDP Frauen („Für eine zivilstandsunabhängige Individualbesteuerung (Steuergerechtigkeits-Initiative)“
Doch das letzte Wort ist darüber noch nicht gesprochen. Ende Januar 2025 tagt die im Ständerat in dieser Sache federführende Kommission für Wirtschaft und Abgaben (WAK-S). Diese Kommission wird je nach Mehrheitsverhältnissen dem Ständerat die Einführung der Individualbesteuerung zur Annahme oder Ablehnung empfehlen.