Aus Sorge und als Antwort auf aktuelle bildungspolitische Fragen hat das Lehrernetzwerk Schweiz kürzlich das Positionspapier „15 Thesen für ein Bildungssystem mit Zukunft“ herausgegeben. Im Interview mit Ralph Studer von Zukunft CH spricht Jérôme Schwyzer, Präsident des Lehrernetzwerks, über „hausgemachte Probleme“ unserer Volksschule und mögliche Auswege aus der fast schon zerfahrenen Bildungsdebatte.  

Zukunft CH: „Ohne die Volksschule wäre die Schweiz nicht, was sie ist“, schreibt das Lehrernetzwerk Schweiz. Wie geht es der Volksschule aktuell, Herr Schwyzer?

Schwyzer: Es geht ihr nicht besonders gut. Rund ein Viertel unserer Schulabgänger können nach der regulären Schulzeit nicht genügend lesen und schreiben – so das Resultat einer aktuellen Pisa-Studie. Und dies in einem der teuersten Bildungssysteme der Welt. Die integrative Schule, ein total überfrachteter Lehrplan und die starke Migration sind wesentliche Gründe für das schlechte Abschneiden unserer Volksschule.

Zudem hat die Volksschule erhebliche Reputationsschwierigkeiten. 71 Prozent der Bevölkerung sind unzufrieden, wie eine Umfrage das Onlineportals „nau.ch“ ergeben hat. Die meisten Lehrer geben sich alle erdenkliche Mühe und machen ihren Beruf auch pflichtbewusst. Sie sind im Schulalltag aber zunehmend überfordert und quittieren ihren Job oft nach kurzer Zeit oder haben ein Burnout. Viele geeignete Personen entscheiden sich gar nicht mehr für diesen doch sehr schönen Beruf. Die Folge ist ein Lehrermangel, der die Situation noch verschärft. Ein Teufelskreis.

Zukunft CH: Was verstehen Sie unter einer guten und überzeugenden Volksschule?

Schwyzer: Eine gute und überzeugende Volksschule ist – wie der Name es sagt – eine Schule für das Volk. An der Volksschule sollen unserer nächsten Generation grundlegendes Wissen und grundlegende Kompetenzen vermittelt werden, die sie fürs Leben brauchen. Leider schiesst die Volksschule immer mehr über dieses Ziel hinaus: mit zu vollen Lehrplänen, viel zu vielen Fächern und Kompetenzzielen. Sie übernimmt zunehmend die Erziehungsverantwortung, statt diese von den Eltern einzufordern. Auch woke Ideologien finden immer mehr den Weg ins Klassenzimmer. Das muss gestoppt werden.

Zukunft CH: Ende 2024 veröffentlichte das Lehrernetzwerk das Positionspapier „15 Thesen für ein Bildungssystem mit Zukunft“. Welches Ziel verfolgen Sie damit?

Schwyzer: Wir wollen eine Grundlage schaffen und aufzeigen, was wir unter einem guten und gesunden Bildungssystem verstehen. Es soll auch unseren Mitgliedern und interessierten Personen ein Argumentarium bieten. Unsere Rückmeldungen zeigen, dass die meisten Lehrer und ein Grossteil der Bevölkerung hinter den Thesen stehen. Dieser Common-Sense und die Vernunft müssen auch dringend wieder den Weg in unsere Bildungsdepartemente und vor allem in unsere Pädagogischen Fachhochschulen (PH) finden. Die PH mit ihrer praxisfernen Ausrichtung sind meines Erachtens wesentlich für die Krise unseres Bildungswesens verantwortlich.

Zukunft CH: In diesem Positionspapier schreiben Sie auch von „hausgemachten Problemen, insbesondere verursacht durch fehlgeleitete Reformen, die sich in der Praxis nicht bewähren“. Woran denken Sie hier besonders?

Schwyzer: Ein ganz wesentlicher Punkt ist die Akademisierung des Lehrerberufs. Früher war der Lehrer eine Person, die eine Klasse führen musste. Es war also ein pädagogischer Führungsberuf und damit ging auch eine gewisse Stellung in der Gesellschaft einher. Heute sind Lehrer Akademiker, welche wissenschaftliche Arbeiten schreiben müssen und viel zu wenig ausgebildet werden, mit Kindern umzugehen. Eine fatale Entwicklung!

Die integrative Schule – auch sie gefördert von den PH – hat wesentlich dazu beigetragen, das Niveau an den Schulen zu senken. Für das Scheitern in der Praxis mitverantwortlich ist zudem ein überladener Lehrplan mit starker Fokussierung auf die kopflastigen Fächer. Eine Bildung nach Pestalozzi, wo Kopf, Herz und Hand im Zentrum steht, rückt immer stärker in den Hintergrund. Das läuft einer ganzheitlichen Bildung zuwider. Aber sie passt leider zur Akademisierung unserer Gesellschaft.

Zukunft CH: In Ihren Thesen fordern sie u.a. eine Stärkung des Klassenlehrers. Ist das nicht „antiquiert“? Der heutige Trend geht doch in Richtung Lehrer als „Coach“ und „Lernbegleiter“.

Schwyzer: Lernen läuft immer und in erster Linie über Beziehung. Diese geht aber verloren mit dem Heer von angestelltem Personal in einer Klasse. Der Klassenlehrer als Bezugsperson ist gerade für Kinder und Jugendliche in den unteren Klassen, also der Primarschule, zentral. Zu viele Lehrer und Lehrerinnen in einer Klasse erschweren zudem die Arbeit. Es muss viel Zeit und Energie für Absprachen aufgewendet werden – wertvolle Zeit, die man für die Kernaufgabe „Unterricht“ investieren könnte.

Zukunft CH: Das Lehrernetzwerk hat auch Vorschläge und Verbesserungsmassnahmen im fachlichen Bereich. Insbesondere fordern Sie „die Wiederherstellung des klassischen Fächerkatalogs“. Womit begründen Sie diese Forderung?

Schwyzer: In diesen neuen Fachkonglomeraten sehe ich ein erhebliches Problem, das insbesondere bei handwerklichen Fächern zutage tritt. Zum Beispiel das neue Fach „Textiles und Technisches Gestalten“ (TTG): Es fasst das klassische Holz- oder Metallwerken und das textile Werken in einem Fach zusammen. Zwei Fächer, die unterschiedlicher nicht sein könnten, bilden neu ein Fach. Dies führt dazu, dass nicht wenige Schüler nur noch in einem der beiden Fächer unterrichtet werden, je nachdem, wo der Fokus des Lehrers liegt.

Oder nehmen wir das Fach „Wirtschaft, Arbeit, Haushalt“ (WAH): Wo früher noch klassisch eine Kochschule stattgefunden hat, spielt der praktische Teil, das Kochen, im besten Fall eine Nebenrolle. Diese Entwicklung ist insbesondere für die Kinder fatal, welche vielleicht in den „Kopffächern“ nicht so begabt, dafür handwerklich geschickt sind. Ihre Fertigkeiten werden immer weniger gefragt – und dies, obschon gerade in handwerklichen Berufen grosser Fachkräftemangel herrscht. Die Schule verschärft also mit dem neuen Lehrplan 21 dieses Problem zusätzlich. Das ist absurd.

Zukunft CH: Auch beim Lehrplan 21 wollen Sie ansetzen. Es sei dringend angezeigt, „den Lehrplan 21 abzuspecken und zu vereinfachen“. Wo sehen Sie den dringendsten Handlungsbedarf?

Schwyzer: Den dringendsten Handlungsbedarf sehe ich bei der Reduktion auf nur noch eine Fremdsprache an der Primarschule, wie es aktuell ein Vorstoss zum Beispiel im Kanton Zürich fordert. Aber auch sonst liegt dem Lehrplan ein durch und durch technokratisches Menschenbild zugrunde und beinhaltet – halten Sie sich fest – 363 Kompetenzen und 2304 Kompetenzstufen. Darin verlieren sich die Lehrer, der Unterricht wird beliebig.

Zukunft CH: „Die integrative Schule ist gescheitert“, kann man in These 8 des Positionspapiers lesen. Ist diese Aussage nicht zu radikal?

Schwyzer: Wenn sogar der Lehrerverband des Kantons Basel-Stadt, der nicht in Verdacht steht, besonders konservativ zu sein, fordert, die integrative Schule wieder abzuschaffen, ist dies doch ein starkes Zeichen. Ich bin nicht gegen Integration, aber gegen Integration um jeden Preis. Die Lehrerinnen und Lehrer kommen immer mehr an den Anschlag. Stark verhaltensauffällige Schüler werden integriert und fordern so viel Aufmerksamkeit, dass das Lehrpersonal für die ganz gewöhnlichen Schüler kaum mehr Zeit findet. Diese ganz normalen Schüler, die doch zum Glück immer noch die grosse Mehrheit ausmachen, sind die Leidtragenden dieses ideologischen Experimentes.

Zukunft CH: Die Digitalisierung ist aus unserer Gesellschaft nicht mehr wegzudenken. Flächendeckend werden Schulen mit Tablets ausgerüstet. Braucht es nach der Meinung des Lehrernetzwerks einen digitalen Stopp? 

Schwyzer: Es braucht dringend einen digitalen Stopp an der Primarschule, ja. Die Kinder können an der Oberstufe mit der nötigen Sorgfalt an dieses Thema herangeführt werden, aber bis dahin braucht es weder ein Tablet noch ein Notebook im Schulzimmer. Die Primarschule darf ruhig analog sein: Ein Kind lernt mehr über Tiere, wenn es einen Zoo besucht, anstatt wenn es im Internet – oft mit Copy-Paste – Recherchen zusammenzuträgt.

Zukunft CH: „Gesamtgesellschaftliche und politische Tendenzen“, so das Positionspapier, „wie eine Verengung des Meinungskorridors und das handfeste Bemühen des Staates, die Bürger in eine bestimmte Richtung zu lenken, manifestieren sich auch im Klassenzimmer.“ Das klingt nicht gerade nach der Schule eines freiheitlich-demokratischen Staates. Was läuft hier Ihrer Meinung nach falsch?

Schwyzer: Viele Schulen haben leider eine ideologische Schlagseite bekommen. Oft laden Schulen auch externe Organisationen ein, welche die Schüler besuchen und beispielsweise in Sachen Sexualaufklärung oder Klimawandel die Jugendlichen einseitig „aufklären“. Meine eigene Tochter wurde von einer schwulen, non-binären und polyamoren Person aufgeklärt, die anscheinend mit zwei transsexuellen Partnern gleichzeitig zusammenlebt. Und die Schule hielt es nicht für notwendig, die Eltern im Vorfeld über diesen Besuch zu informieren. Das geht einfach nicht!

Zukunft CH: Die Privatschule wird zunehmend für Eltern zur bevorzugten Schulalternative. Sie unterstützen ein Modell mit „Bildungsgutscheinen“. Wie würde dies umgesetzt? Wo sehen Sie die Vorteile?

Schwyzer: Die Eltern sollen frei entscheiden können, an welche Schule sie ihr Kind schicken möchten. Das Volksschulmonopol würde fallen. So grotesk das tönt: zum Wohle der Volksschule. Denn Konkurrenz belebt immer und führt dazu, dass sich die verschiedenen Akteure verbessern.

Zudem bin ich überzeugt, dass es viele Privatschulen gäbe, die sich vielleicht gerade auf schwierigere Schüler spezialisieren könnten, auch dies zur Entlastung der Volksschule. Aktuell haben wir die Situation, dass sich nur die Reichen die Schule für ihre Kinder aussuchen können. Das widerspricht der Chancengleichheit fundamental.

Zukunft CH: Was wünschen Sie sich künftig für das Schweizer Schul- und Bildungswesen?

Schwyzer: Mehr Pragmatismus und dass die Politik vermehrt die verschiedenen Akteure, also Lehrer und auch Eltern in ihre Entscheidungen miteinbezieht.

 Zukunft CH: Vielen Dank für das Gespräch.