Resilienz gehört zu den Top-Themen, wenn es um Kindererziehung geht. Das Institut für Ehe und Familie IEF hat am 6. März 2025 Dr. Martina Leibovici-Mühlberger zur Frage interviewt, was Kindern dabei hilft, resiliente Erwachsene zu werden. Der Kernsatz der Psychotherapeutin zum Thema lautet: „Holen Sie Ihr Kind dort ab, wo es ist und nicht dort, wo Sie es haben wollen.“ Das Interview führte Sabrina Montanari von IEF.
IEF: Frau Professor Leibovici-Mühlberger, welche Merkmale zeichnen eine resiliente Person aus?
Leibovici-Mühlberger: Der resiliente Erwachsene ist sehr einfach beschrieben: jemand, der es versteht, wie eine Katze auf ihre vier Pfoten zu fallen. Der interessante Aspekt ist, welche inneren Prozesse dafür verantwortlich sind, dass man das kann. Dafür muss man gelernt haben, an sich zu glauben, aber auch an die Welt. Wesentlich ist, dass man Durchsetzungskraft hat, aber auch Gemeinschaftssinn, dass man den Platz sieht, den die Situation gerade erfordert und dass man sich an den Platz stellt.
Wesentlich ist auch, dass man über eine hohe Kreativität verfügt. Die Kreativität ist die wesentlichste Basiskompetenz für Resilienz. Damit meine ich nicht Kreativität im Sinne der Musik oder bildenden Kunst, sondern allgemeiner gefasst, die Fähigkeit bestehendes Wissen in Bestandteile aufzubrechen und daraus je nach konkreter Anforderung eine neue Lösung zu finden.
IEF: Und wie werden Kinder resiliente Erwachsene?
Leibovici-Mühlberger: Die Resilienz einer Person baut sich von der Kindheit weg auf. Ich kann die Resilienz eines Kindes durch Bedingungen fördern, unter denen es ein adäquates Selbstvertrauen aufbauen kann. Dabei reden wir bitte nicht von Arroganz oder davon „das Kind auf das Podest zu stellen“ – „Du bist der Beste! Keiner ist so gut wie Du!“ – wir reden von einem bescheidenen, selbst-bewussten Wissen um sich: „Der oder die bin ich!“. Auch kann ich die Kreativität als Lösungskompetenz fördern.
Aber Selbstvertrauen und Kreativität sind natürlich viel zu kurz gegriffen, ohne eine Grundatmosphäre der Grund-Angenommenheit, romantisch gesagt der Liebe für das Kind: Du bist mein Kind. Ich liebe dich. Ich führe dich – das ist mein Auftrag. Ich bin nicht deine Freundin. Das kann ich später werden. Im Prozess deines Aufwachsens habe ich keine Führungsmacht, aber Führungsverantwortung. Aus der Verantwortung rekrutiert sich, dass ich Grenzen setze, die dir das Spielfeld gut abstecken, indem du dich altersadäquat bewegen kannst und Erfahrungen machen kannst. In diesem Raum entwickelst du dich. Aber ich liebe dich unabhängig von deiner Leistung.
IEF: Wesentlicher Ausgangspunkt scheint mir also die Fähigkeit, die Realität zu erkennen, gewissermassen aufmerksam zu sein.
Leibovici-Mühlberger: Ja, und zwar, um adäquat darauf zu reagieren und das Beste daraus zu machen. Dafür braucht man die Kreativität. Eine nicht-resiliente Person bricht in einer neuen, herausfordernden Situation ein: „Hoppla, Herausforderung! – Keine Lösung!“
Eine resiliente Person fragt sich: „Was fällt mir ein? Wie kann ich das Bestehende verändern, um voranzukommen?“ Widerstandskämpfer sind beispielsweise resiliente Menschen gewesen: „Ok, ich habe ein moralisches Grundgerüst in mir, das mir sagt: ‚Es ist nicht richtig, was hier passiert.‘ Was muss ich tun, damit ich diese Werte, für die ich stehe, aufrechterhalten kann?“
IEF: Apropos „Widerstandskämpfer“ – kann man eine „Erziehung zur Freiheit und Verantwortung“ als Nährboden von Resilienz verstehen? Und was würden Sie in diesem Zusammenhang unter Freiheit verstehen?
Leibovici-Mühlberger: Sie haben vollkommen recht. Man muss nur schauen, dass Freiheit richtig verstanden wird. Beliebigkeit ist keine wirkliche Freiheit, das ist aber oft die Haltung: „Wenn es mir nicht mehr gefällt, ändere ich das.“
Das Wort Disziplin ist heutzutage ein „Schwarzwort“. Ich bin natürlich auch gegen Disziplin als Drilldisziplin, aber Selbstdisziplin ist zum Beispiel ein Schritt Richtung Freiheit.
Ein ganz banales Beispiel: Ich habe vier Kinder. Als junge Mutter mit Arztpraxis hatte ich immer eine Menge Sachen mit – riesige Handtaschen mit Jausen, Akten etc. Ich habe aber ganz diszipliniert einen Platz gehabt, wo der Schlüssel ist. Das ist ein ganz banales Beispiel von Selbstorganisation, die die Förderung von Freiheit und Resilienz in sich trägt. Das sehe ich auch in den Lebensgeschichten von sehr erfolgreichen und resilienten Menschen, denen übel mitgespielt worden ist. Da ist ein hohes Mass an Selbstorganisation und wenig Selbstmitleid; ein hohes Mass an Glauben an sich und an die Welt.
Für den Glauben an die Welt ist meistens eine Leitfigur verantwortlich. Dieses liebevolle Element ist wichtig, um Resilienz aufzubauen. Kinder suchen das ausserhalb der Familie, wenn sie es innerhalb nicht finden: in Gestalt eines Lehrers, Trainers oder Jugendgruppenleiters. Ein Kind, das in desolaten emotionalen Umständen aufwächst, kann nur schwer resilient werden. Wenn da aber jemand ist, der Bindung und Beziehung anbietet und Begeisterung für etwas, wenn ich auf eine Person treffe, die mich erkennt, im Sinne von an-erkennt und bereit ist, mit mir in Interaktion zu kommen und mich zu fördern, dann kann das auch gelingen.
Quelle: Institut für Ehe und Familie (IEF)
Dr. Martina Leibovici-Mühlberger ist Mutter von vier Kindern, Gynäkologin und Psychotherapeutin. Sie leitet die ARGE Erziehungsberatung und Fortbildung GmbH, ein Ausbildungs-, Beratungs- und Forschungsinstitut mit sozialpsychologischem Fokus auf Jugend und Familie. Sie ist Buchautorin und Verfasserin zahlreicher wissenschaftlicher Fachartikel.