Die syrianisch*-orthodoxen Christen in der Schweiz – sie nennen sich selbst gern wie ihre alten Vorfahren „Assyrer“ – gehen in Bern, Schwyz und andernorts auf die Strassen. Sie demonstrieren gegen die Bedrängnis ihrer Glaubensgeschwister in der Türkei. Einmal mehr kämpft das Volk, das Anfang des letzten Jahrhunderts noch ein Millionenvolk war, inzwischen aber nur noch wenige Tausend in der Türkei zählt und die Sprache Jesu – aramäisch – spricht, gegen seine Auslöschung.
Mit ihren Demonstrationen wollen die syrianisch-orthodoxen Christen auf die akute Gefährdung des Kirchenzentrums Mor Gabriel in der Türkei aufmerksam machen: Nach dem vorweihnachtlichen Auftakt von Prozessen zur Verkleinerung oder gar völligen Aufhebung dieses Klosters im Tur Abdin an der Grenze zu Syrien wurde am Jahreswechsel auch ein Verfahren wegen Missionierung von Muslimen eröffnet. In diesem Jahr gehen die Prozesse weiter. Sie beseitigen den letzten Zweifel daran, dass die Türkei noch vor ihrem eventuellen EU-Beitritt vollendete Tatsachen hinsichtlich ihrer letzten Reste christlicher Minderheiten schaffen will. Das letzte Lichtlein christlich-orientalischer Präsenz soll so ausgelöscht werden, ein Licht, das früher einmal grosse Teile der Kirchen erleuchtet und ein grossartiges Verkündigungswerk in ganz Asien aufgebaut hatte.
Die syrianischen Christen der Türkei waren schon im Ersten Weltkrieg – wie die Armenier – Opfer regelrechter Ausrottungen. Dann blieben die Angehörigen der syrianisch-orthodoxen Kirche zwar vor der Vertreibung bewahrt, der in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts an die zwei Millionen Griechisch-Orthodoxe zum Opfer gefallen sind. Doch gerieten die Syrianer sechzig Jahre später im Kurdenkonflikt zwischen die Mühlsteine der PKK-Partisanen und der türkischen Ordnungskräfte: Mehr als 100’000 von ihnen flohen nach Deutschland, Österreich, in die Schweiz und nach Skandinavien – wenige Tausend blieben im Tur Abdin zurück.
Das Schlimmste an den gegenwärtigen Prozessen ist die Tatsache, dass in ihnen modernes türkisches und islamisches Recht, das auf dem Papier schon längst abgeschafft ist, vermengt werden. Das zeigt sich auch im Falle des Klosters Mor Gabriel, das abgerissen werden soll, weil an seiner Stelle einmal eine Moschee gestanden hätte. Und das Missionierungsverbot unter Todesstrafe ist ebenfalls ein Kernsatz des islamischen Religions-, und nicht des türkischen Staatsrechtes. Diese juristische Doppelbödigkeit ist aber seit den Tagen der Jungtürken manifest, die 1915 ihre Massaker an den Armeniern sowohl mit deren rassischer Minderwertigkeit wie auch durch ein Rechtsgutachten des Scheich ul-Islam, des obersten islamischen Geistlichen, gerechtfertigt hatten. Als Bindeglied zwischen Nationalismus und Islamismus diente ihnen der Grundsatz, dass jeder „richtige“ Türke auch Moslem zu sein habe.
Was wir den Syrianern verdanken
Im letzten halben Jahrtausend hatten die syrianischen Christen in abgelegenen Rückzugsgebieten des Osmanischen Reiches nur als eine Art Hinterwäldlerkonfession überlebt. Wenig gemahnte an ihre einst zentrale Bedeutung in der Weltkirche, bis vor über 100 Jahren in ihrer nordamerikanischen Diaspora das aufrüttelnde Werk „The Syrian Christ“ erschien. Es erinnerte daran, dass der erste syrianische Christ kein Geringerer als Jesus Christus selbst war, der sich der aramäischen Sprache bedient hat, aus der die syrianische Kirchen- und Umgangssprache hervorgegangen ist. Diese aramäischen Christen blieben später ausserhalb der Hellenisierung in der römischen Reichskirche und haben so einen Grossteil des Erbes der Judenchristen bewahrt. In ihrer Frömmigkeit wurde besonders der Mensch Jesus angesprochen, weshalb sie als erste dessen Geburt neben dem zunächst alles beherrschenden österlichen Auferstehungsfest zu feiern begannen.
Unter arabischer Herrschaft spielten die Syrianer im islamischen Kalifenstaat eine wichtige Rolle, durften ihren Glauben aber nicht mehr verkünden und ausbreiten. Sie wichen daher nach Asien aus und begründeten dort von Turkestan bis Japan eine blühende Missionskirche. Ihre Reste sind bis heute in den indischen Thomaschristen erhalten.
Gute Integration der Syrianisch-Orthodoxen in der Schweiz
Von den christlichen Gemeinschaften, die sich der aramäischen Sprache bedienen, sind in der Schweiz vor allem die Syrianisch-Orthodoxen aus der Türkei vertreten, während die „Kirche des Ostens“ des Iraks und Irans bei uns fast keine Vertreter hat. Nur für die aus ihren Reihen katholisch gewordenen „Chaldäer“ gibt es eine Zentralpfarrei in der Westschweiz. Dasselbe gilt für die libanesischen „Maroniten“. Insgesamt finden an 16 Orten der Schweiz regelmässig Gottesdienste statt. Allerdings haben die syrianisch-orthodoxen Christen noch keine eigenen Kirchen, sie sind bei Christkatholiken, Katholiken und Reformierten zu Gast. Sie gehören zu jenen Ost- und Orientchristen, die am eifrigsten mit den Schweizer Kirchen zusammen arbeiten. Im Aargau sind sie sogar eines der aktivsten Mitglieder in der kantonalen Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen (AGCK).
Als Volksgruppe sind die „syrischen“ Christen über alle Konfessionen hinweg unter dem Namen „Assyrer“ organisiert, vor allem in der „Assyrische Demokratische Organisation“ (ADO). Einer ihrer aktivsten Vertreter ist Simon aus Wil. Seine Anliegen an die neue Heimat Schweiz sind der Beistand für die in der Türkei verfolgten Glaubens- und Volksgeschwister – „Die Muttersprache Jesu darf nicht ausgerechnet in unseren Tagen aussterben“ – und die Aufnahme christlicher Flüchtlinge aus dem Irak in die Schweiz. Simon lebt seit fast 30 Jahren hier. Gegenüber Zukunft CH sagt er: „Wir Assyrer sind zu Fremden im eigenen Land geworden. Wir haben keine Chance, in der Türkei, im Irak zu bleiben. Wir werden unterdrückt und verfolgt. Immer wieder werden Persönlichkeiten ermordet, um uns einzuschüchtern. Von unserem Millionenvolk zu Anfang des letzten Jahrhunderts bleiben in der heutigen Türkei keine 3’000 mehr übrig!“ – In der Schweiz sind es schon mehr …
* Seit dem Jahr 2000 lautet die offizielle Selbstbezeichnung der syrisch-orthodoxen Christen syrianisch-orthodox, um jede Verwechslung mit dem Staat Syrien auszuschliessen.
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Dr. Heinz Gstrein ist Orientalist und Theologe und war über 30 Jahre als Korrespondent von Radio DRS und NZZ in der islamischen Welt unterwegs. Er lehrt an den Universitäten Wien und Bratislava. Zudem ist er Präsident der „Arbeitsgemeinschaft Orthodoxer Kirchen in der Schweiz“ (AGOK).
Von Dr. Heinz Gstrein