Neben den Kirchen der Reformation und der römisch-katholischen Kirche bilden sie die dritte grosse konfessionelle Familie der Christenheit: die sogenannten Orthodoxen. Doch während uns Reformierte und Katholiken geläufig, ja vertraut sind, kommt bei vielen ein grosses Fragezeichen auf, wenn es um die Orthodoxen geht. Wer sind eigentlich die orthodoxen Christen und was haben sie mit der Schweiz zu tun?
Die orthodoxen Christen zerfallen selbst in zwei Gruppen: in byzantinische und orientalische Orthodoxe. Diese entstanden schon im fünften Jahrhundert, nachdem sich im römischen Staat die lange von dessen Kaisern verfolgten Christen zu einer Reichskirche entwickelt hatten. Im Perserreich, das mit den Römern fast ununterbrochen Krieg führte, galten seine zahlreichen aramäischen Gemeinden daher ab diesem Zeitpunkt als Staatsfeinde und wurden grausam verfolgt. Um dem Vorwurf zu entgehen, eine fünfte Kolonie Roms zu sein, gründeten sie mit dem Patriarchat von Babylon ihre eigene Kirchenorganisation. Um sich noch stärker von der römischen Reichskirche abzugrenzen, nahmen sie die Lehre des Nestorius an, den jene 431 auf dem Konzil von Ephesus verurteilte: In Jesus Christus seien Mensch und Gott zwei getrennte Personen, Maria daher auch nicht Gottes-, sondern nur Christusmutter.
„Kirche des Orients“
Diese fortan nestorianischen Christen leisteten in der Folge im Mittelalter in Asien ein grossartiges Missionswerk bis nach Japan hinüber. Es wurde später vernichtet, als die Mongolen den Islam annahmen. Nur im Süden Indiens konnten sich diese Missionsgemeinden ausserhalb des islamischen Machtbereichs unter dem Namen Thomaschristen erhalten. Die Nestorianer bezeichneten sich selbst vom heutigen Irak bis ins indische Kerala lange nicht als „orthodox“, sondern als „Kirche des Orients“. Erst als sich Teile von ihnen dem Papst unterstellten und die Namen chaldäisch- bzw. malabarisch-katholisch annahmen, bürgerte sich für den Rest zur Unterscheidung die Bezeichnung orthodox ein. Heute nennen sich diese Orientchristen meist assyrisch-orthodox. In ihrem irakischen Ursprungsland werden sie nun schon seit Jahren hingemordet und vertrieben.
Unter ähnlichen politischen Vorzeichen des Gegensatzes zum – inzwischen – oströmischen Reich entstanden die eigenständigen Orientkirchen der ägyptischen Kopten, westaramäischen Syrianer und der Armenier. Sie machten eine andere von der Reichskirche 451 in Chalzedon verurteilte Lehre zu ihrer gemeinsamen Doktrin: den Monophysitismus. Dieser schreibt Jesus nur eine göttliche, keine menschliche Natur zu. Auch diese „vorchalzedonischen“ Kirchen zeichneten sich durch eifrige Verkündigung aus: besonders in Äthiopien und Eritrea sowie ebenfalls in Indien. Auch bei ihnen wurde der Name „orthodox“ erst später zur Unterscheidung von koptisch-, syrisch- oder armenisch-katholischen Kirchengründungen eingeführt. So nennen sich die Armenier bis heute armenisch-apostolisch und nicht armenisch-orthodox. Auch Kopten, syrisch- und eritreisch-Orthodoxe zählen heute zu den am meisten verfolgten Christen auf der Welt. Insgesamt dürfte es auf der Welt an die 20 Millionen orientalische Orthodoxe geben.
Griechisch-Orthodoxe Christen
Alle anderen, meist griechischen Ostchristen im oströmisch-byzantinischen Reich und ihre Missionsgebiete in Osteuropa (Ostslawen) und auf dem Balkan (Albaner, Rumänen, Serben, Bulgaren) standen noch lange weiter in Gemeinschaft mit der abendländischen Kirche. „Orthodox“ und „Katholisch“ waren Bezeichnungen für die westlichen wie für die östlichen Christen. Erst mit dem formellen Akt der Kirchenspaltung von 1054, als der Papst den Patriarchen von Konstantinopel exkommunizierte, und vor allem seit dem Kreuzzug von 1204 ging diese Einheit bis heute in die Brüche. Die griechisch-orthodoxe Kirchengemeinschaft bilden heute die Patriarchate von Konstantinopel, Alexandria, Antiochia, Jerusalem, Moskau, Serbien, Rumänien, Bulgarien und Georgien sowie die unabhängigen Landeskirchen von Zypern, Griechenland, Polen, Albanien und Tschechien-Slowakei. Ehrenoberhaupt, Koordinator und Sprecher der rund 300 Millionen Griechisch-Orthodoxen ist der Ökumenische Patriarch Bartholomaios I. mit Sitz in Istanbul (dem alten Konstantinopel). Bei ihnen gibt es keine so tiefen Glaubensunterschiede zu den katholischen Westchristen wie bei den orientalischen Orthodoxen in ihren Lehren über Jesus Christus. Doch lehnen auch die Griechisch-Orthodoxen ähnlich wie die Christkatholiken die Unfehlbarkeit des römischen Papstes und seine Machtbefugnisse über alle Christen der Welt ab (universeller Jurisdiktionsprimat).
Rund 150‘000 orthodoxe Christen in der Schweiz
In die Schweiz kamen die ersten Orthodoxen mit den russischen Truppen in den Napoleonischen Kriegen schon vor über 200 Jahren. Das Zürcher Fraumünster wurde vorübergehend zur ersten orthodoxen Kirche des Landes. Heute stellen die Serben mit über 100‘000 Gläubigen in einem Dutzend Gemeinden die stärkste orthodoxe Gemeinschaft. Genaue Zahlenangaben sind allerdings schwierig, da bei weitem nicht alle Orthodoxen auch kirchlich erfasst und organisiert sind. Doch kann von insgesamt 150‘000 orthodoxen Christen ausgegangen werden. Sie sind nach den Reformierten, Katholiken und den Muslimen die viertgrösste Konfession in der Schweiz. Über eigene Bischöfe verfügen die orthodoxen Griechen und Russen (alle in Genf) sowie die Syrisch-Orthodoxen (Arth am Zuger See). Auch die Armenier sind in einem Schweizer Bistum organisiert, doch ist noch kein Bischof ernannt. Dachorganisation der Einzelgemeinden ist die „Arbeitsgemeinschaft Orthodoxer Kirchen der Schweiz“ (AGOK) mit Sitz in Zürich. Insgesamt sind in der Schweiz heute alle orthodoxen Ost- und Orientkirchen vertreten, mit Ausnahme von Bulgaren, Georgiern und den Assyrisch-Orthodoxen. Eine mazedonisch-orthodoxe Kirchgemeinde im Kanton Luzern wird von den anderen Kirchen noch nicht anerkannt, weil die Serben auf sie Anspruch erheben.
Die Kopten (orthodoxe Christen aus Ägypten) haben der Schweiz mit Offizieren, Soldaten und Familienangehörigen der aus Ägypten herbeikommandierten „Thebaischen Legion“ ihre ersten Märtyrer geschenkt: Moritz in St. Maurice oder Felix und Regula in Zürich. Lange blieben – wie in anderen Alpenländern – auch in der heutigen Schweiz relativ starke byzantinische Einflüsse auf die kirchliche Kunst (Disentis), religiöses Brauchtum und Spiritualität (Niklaus von der Flüe) mitbestimmend. Der syrischen Christenheit verdankt das ganze Abendland über Ambrosius in Mailand und St. Gallen die Anfänge seiner Hymnendichtung und Kirchenmusik.
Bereicherung des religiösen Lebens
Heute tragen die orthodoxen Gemeinden in unserer Mitte mit ihren Ikonen und feierlichen Gottesdiensten wesentlich zur Wiederbereicherung eines oft verkümmerten religiösen Lebens bei. Es wäre aber falsch, die orthodoxe Präsenz nur im Sinne des üblich gewordenen Multikulturalismus einordnen zu wollen. Die orthodoxen Christen zeigen uns angekränkelten Kindern einer säkularisierten Gesellschaft die Schönheit und Kraft einer freudigen, schwungvollen Gläubigkeit und des selbstverständlichen Hochhaltens christlicher Werte und können uns als Glaubensschwestern und -brüder helfen, Christus aus dem Schutt unserer Kirchen, Familien und Gesellschaft wieder freizugraben.
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Heinz Gstrein ist Orientalist, Theologe und Präsident der 2004 gegründeten AGOK (Arbeitsgemeinschaft Orthodoxer Kirchen in der Schweiz).