Wer einen genaueren Blick in die Landschaft des Schweizer Mittellandes und der Alpenregion wirft, wird schnell einmal eine Anhäufung besonderer Phänomene erkennen: zahlreiche Seen, (heute überwachsene) Gesteinshügel mitten in einer Ebene, grosse Gesteinsblöcke von Alpengestein im Flachland, auffällige Terrassen in Hanglagen oder massive Kratzspuren in Felswänden der Alpen. Dies alles sind Hinterlassenschaften der gewaltigen Geschehnisse der jüngsten grossen Eiszeit, welche rund 20’000 Jahre vor heute v.a. aufgrund astronomischer Begebenheiten ihren letzen grossen Höhepunkt erreichte. Damals war die durchschnittliche Lufttemperatur um ca. 15 Grad Celsius kälter als heute.
Während der Eiszeit waren weite Teile der Erde mit Eis bedeckt. Auch im Alpengebiet wuchsen die Gletscher stark an, sodass ein Grossteil der Schweiz von den Eismassen bedeckt war. Dank deutlichen Spuren der damaligen Eismassen weiss man z.B., dass das heutige Luzern unter einer rund 1‘000 Meter dicken Eisschicht, Genf gar unter 1’300 Metern Eis gelegen hat. Seit dem Ende der letzten Eiszeit vor ca. 10’000 Jahren haben sich die Gletscher aufgrund der Klimaerwärmung mit wenigen Ausnahmen immer weiter ins Hochgebirge zurückgezogen.
Was ist überhaupt ein Gletscher?
Gletscher sind grosse Eismassen, welche durch die Firnmetamorphose (Umwandlung von Schnee zu Gletschereis) in Gebieten genügender Kälte und genügenden Niederschlags entstanden sind. Unter Druck und mit Wärme wird Schnee zu Eis. Im Hochgebirge lösen sich innerhalb von 24 Stunden Tauen und Gefrieren des Schnees ab. Dieser Vorgang wiederholt sich Tag für Tag, und Schnee, welcher mindestens eine Sommersaison übersteht, d.h. genug hoch und auch genug geschützt liegt (Schatten), kann sich im ersten Schritt der Firnmetamorphose zu einem körnigen Eis, dem Firn verwandeln. Mit fortlaufender Zeit fallen nun immer neue Decken von Schnee auf den Firn, was diesen fortlaufend stärker zusammenpresst. Unter diesem Druck und nach wie vor wechselnden Temperaturen streben die Firnkörner eine „maximale Ausnützung des Raumes“ an, verbinden sich mit den Nachbarkörnern und erlangen so die Gestalt von sehr dichtem, massivem Gletschereis. Dieser Prozess kann nur im oberen, höher gelegenen Teil des Gletschers stattfinden, wo ganzjährig Schnee fällt. Man bezeichnet diesen Teil des Gletschers als Nährgebiet. Der untere Teil des Gletschers ist wegen der höheren Lufttemperaturen durch mehr oder weniger kontinuierliches Abschmelzen der Eismasse geprägt. In diesem Zehrgebiet ist also ein Massenverlust auszumachen. Erst vor gut 100 Jahren stellten Naturforscher fest, dass Gletscher sich bewegen. Die heute gültige Theorie besagt, dass Gletscher aufgrund ihres grossen Eigengewichts – durch die Erdanziehungskraft angezogen – nach unten fliessen. Sie „rutschen“ mit einer Geschwindigkeit von einigen Metern bis Dekametern pro Jahr bergabwärts.
Einfluss auf die Landschaft
Der soeben besprochene Prozess nährte die Alpengletscher während der letzten grossen Eiszeit so stark, dass diese um ein Vielfaches ihrer Länge und ihres Volumens anwuchsen, bis weit ins Schweizer Mittelland vorstiessen und dort ihre spezifischen Phänomene hinterliessen. Dabei haben sie z.B. walrückenförmige Hügel, Rundhöcker genannt, aus der Erdkruste herausgeschliffen. Die wohl berühmtesten Rundhöcker der Schweiz sind die Brissago-Inseln im Langensee. Berühmt geworden sind auch die sog. Gletschermühlen: Durch Gletscherspalten eingedrungenes Schmelzwasser gräbt durch hohen Druck und mit Hilfe von Sandfracht kreisförmige Vertiefungen und zählt zum Weltnaturerbe der UNESCO. ins darunter liegende Felsbett. Die dabei erreichten Fliessgeschwindigkeiten des Wassers können 200 km/h betragen (z.B. Malojapass, Cavaglia GR, Gletschergarten Luzern).
Die wohl bekanntesten Gesteinsablagerungen von Gletschern sind die wallartigen Moränen. Sie sind am auffälligsten an den Seiten des Eisstromes und an der maximalen Vorrückposition desselben zu finden (Endmoränen). Einzigartig schöne Hinterlassenschaften des eiszeitlichen Reussgletschers hierzu können bei Staffelbach im Aargauer Suhrental oder bei Gontenschwil im benachbarten Wynental bestaunt werden. Wer bei Wangen an der Aare (BE) die A1 benützt, wird von Vater Staat angehalten, seine Fahrgeschwindigkeit aufgrund des kurvenreichen Umfahrens der Endmoräne des eiszeitlichen Rhone-/Aaregletschers auf maximal 100 km/h herunterzusetzen. Endmoränen dämmen zahlreiche Seen des Schweizer Mittellandes ab, so z.B. sämtliche Seen im Kanton Zürich.
Mitten im ehemals von Eis bedeckten Gebiet lagerten die Gletscher markante Schutthügel, sog. Drumlins ab. Diese Drumlins sind in ihrer schönsten und zahlreichsten Erscheinung im Gebiet Hirzel ZH – Menzingen ZG – Schindellegi SZ (mit jeweils einem Bäumchen drauf) oder auch im Zürcher Oberland zwischen Dübendorf und Hinwil zu sehen. Bei den Kindern speziell beliebt sind die Erratiker, die meist riesigen Gesteinsbrocken, welche, von den eiszeitlichen Gletschern aus den Alpen heraustransportiert, überall zwischen Alpen und Jura anzutreffen sind. Lange Zeit konnten sich die Menschen im Schweizer Mittelland nicht erklären, wie diese auffälligen Steine an den Fundort gelangten, speziell deshalb nicht, weil sie geologisch nicht in ihre Umgebung passten. Die Becken sämtlicher Alpenrand- und Alpenvorlandseen wurden beim Rückzug der grossen Eisströme ausgeschliffen. Sie stellen ein bedeutendes, heute auch touristisch nicht zu unterschätzendes Erbe der Eiszeit dar.
Bedeutung von Gletschern für den Menschen
Gletscher sind ideale Wasserspeicher. So wird in vielen Ländern das sommerliche Schmelzwasser der Gletscher zur Energiegewinnung genutzt. Dieses Wasser wird meist in grossen Stauseen gefasst um mit hohem Druck die Turbinen anzutreiben (z.B. Grande Dixence VS, Grimsel BE). In den 1960er-Jahren wurde erstmals das grossflächige Zurückschmelzen der Alpengletscher erfasst, was die Bauten zahlreicher Staumauern nach sich zog.
In sämtlichen Hochgebirgen der Welt werden Schmelzwässer für Bewässerungszwecke verwendet. Die häufig kunstvoll und unter Einsatz des Lebens gebauten und gewarteten Wasserleitungen zweigen das Gletscherwasser unterhalb des Gletschers ab und leiten es hangparallel zu den Feldern in tieferen Lagen. Solche Leitungen, Suonen oder Bisses genannt, sind im Kanton Wallis heute noch sehr verbreitet. Ohne diese ganzjährige Wasserzulieferung wären die trockenen Felder des im Regenschatten liegenden Wallis kaum zu bewirtschaften gewesen. Im Gredetsch- oder dem Baltschiedertal an der Lötschberg- Südrampe können äusserst attraktive und eindrückliche Suonenwanderungen begangen werden.
Vermutlich da sie nicht mehr bedrohlich vorstossen, haben die Alpengletscher ihren einstigen Schrecken verloren. Noch in der Kleinen Eiszeit begegnete man den damals immer wieder auch anwachsenden Eisströmen mit Gebetsprozessionen und dem Aufstellen von Gletscherbannkreuzen. Dass dieser flehende Anruf Gottes im Wallis oder im Berner Oberland manchmal einen sofortigen Gletscherrückzug zur Folge gehabt haben soll, ist beispielsweise im Staatsarchiv Sitten eindrücklich nachzulesen. Das Staunen über die grossartige Schöpfung dieser Naturerscheinung ist jedoch bis heute gleich geblieben.
R.W.