Am 24. April jährte sich zum 100. Mal die unselige Nacht, in der mit Verhaftung und „Abtransport“ der armenischen Elite von Konstantinopel der systematische Mord an bis zu 1,5 Millionen Armeniern und 750’000 Assyrern begonnen hatte. Er gilt als der erste Genozid des 20. Jahrhunderts, was jedoch die heutige türkische Führung hartnäckig ableugnet. Die Tatsache der vorausgeplanten Massenmorde zwischen 1915 und 1918 ist jedoch unbestreitbar.
Auf die Todeslisten kamen auf konfessioneller Basis alle, die einem der drei osmanischen „Religionsvölker“ der orthodoxen, katholischen und evangelischen Armenier angehörten. Das armenisch-protestantische „Millet“ wurde erst 1847 errichtet. Es ging aus einer pietistischen Erweckungsbewegung am Seminar des orthodoxen Patriarchats hervor. Lange konnten sich die reformierten Armenier ihrer mit dem Status eines eigenen Religionsvolkes verbundenen Rechte aber nicht erfreuen: Das Millet wurde 1915 zur Handhabe für ihr Hineinreissen in den Genozid.
Immerhin hatten sich die armenischen Protestanten den Beistand ihrer europäischen – und amerikanischen – Glaubensgeschwister gesichert. Aus der Schweiz war der Hundswiler Jakob Künzler (1871–1949) gekommen. Mit seiner zupackenden, fröhlichen und allen Menschen gegenüber dienstbereiten Art wirkte Künzler schon vor dem Genozid an der evangelischen Missionsklinik von Urfa und gewann das Vertrauen vieler Menschen. Das nutzte er in den blutigen Schicksalsstunden, um zu helfen, als 1915/16 die Todesmärsche der armenischen Christen durch die Stadt wankten. Vergleichsweise wenigen, aber doch zumindest einigen tausend Kindern konnte er so das Leben retten und ihnen Zukunft und Hoffnung schenken. Zugleich wurde Künzler ein wichtiger Zeuge für die Tatsache und die Schrecken des Genozids an den armenischen und assyrischen Christen.
Hundert Jahre danach stellt sich jetzt unausweichlich die Frage, warum auch die heutige Türkei den Genozid weder eingesteht noch bereut. Die ernüchternde Antwort liegt darin, dass sie eben nie mit dem Ungeist der „Jungtürken“ gebrochen hat, die damals in der Türkei herrschten und für den Genozid verantwortlich waren. Kemal Atatürk, der vermeintliche Europäisierer am Bosporus, kam dann aus ihren Reihen. Der Kemalismus war und ist jene faschistisch-rassistische Bewegung, die ihr Land und Volk als einzige noch immer prägt. Die ethnischen Säuberungen werden von Atatürks Nachfolgern fortgeführt. Mit subtileren Mitteln, aber auch offenen Pogromen: So an den thrakischen Juden 1934, Istanbuls Griechen 1955 und bis zum heutigen Tag an den Kurden.
Wenn sich die jetzige „islam-demokratische“ Führung um Präsident Tayip Erdogan wieder an der „guten alten“ osmanischen Türkei orientiert, tut sie das an der ausgerechnet falschen Stelle. Vorbild sind nicht die grossen Reformsultane aus dem mittleren 19. Jahrhundert, sondern wieder die spätosmanischen Jungtürken: Unter Erdogans Herrschaft werden heute die überführten Mörder des evangelischen Missionars Tilmann Ekkehart Geske und seiner türkischen Neuchristen ungestraft auf freien Fuss gesetzt. Acht Jahre nach dem Blutbad vom Zirve im April 2007 spricht jetzt ein Gericht auch die erwiesenen Hintermänner der Untat aus Militär- und Moscheekreisen von jedem Verdacht frei. 1915 ist in der Türkei von 2015 immer noch grausame Realität.
—————————————————————-
Noch bis zum 13. Dezember 2015 erinnert eine Ausstellung in der Kirche Hundwil über das Werk und Leben von Jakob Künzler, der zahlreiche Menschen vor dem Genozid bewahrte.
http://kirche.hundwil.ch/wp-content/uploads/2011/04/Jakob_Kuenzler_Leporellofalz_neues_Datum+Bild.pdf
Von Heinz Gstrein