Die türkischen Neuwahlen vom Sonntag haben Staatschef Tayip Erdogan nach der Alleinherrschaft abgewehrt und der einzigen wirklich demokratisch-fortschrittlichen Kraft, der Kurden- und Minderheitenpartei HDP, den Einzug ins neue Parlament von Ankara gewährleistet. Mit ihr sind zum ersten Mal seit mehr als einem halben Jahrhundert auch drei christliche Abgeordnete und eine armenische Menschenrechtsaktivistin mit eingezogen. HDP-Chef Selahattin Demirtas versprach nach seinem Wahlsieg überhaupt, dass sich seine gesamte Partei so wie anderer Minderheiten auch bevorzugt der türkischen Christen annehmen wird.
Grosser Verlierer ist die islamisch-konservative AK-Partei. Sie hat nicht nur ihr offizielles Wahlziel verfehlt, Erdogan eine Zweidrittelmehrheit für seine Verfassungsänderung zu sichern. Die AKP schaffte nicht einmal mehr die einfache Mehrheit und muss sich nach 13 Jahren Alleinherrschaft bald nach einem Regierungspartner umsehen. Die Einbremsung Erdogans dürfte einer Reihe AK-Politiker und noch mehr ihren Wählern gar nicht unwillkommen gewesen sein. Am allerwenigsten Ministerpräsident Ahmet Davutoglu, der sonst bei Zusammenlegung seines Amtes mit dem des Staatsoberhaupts um den Posten gekommen wäre. Aber auch so sitzt er als Verlierer der einfachen Mehrheit nun gar nicht mehr fest im Sattel. Obwohl sich die AKP in seiner Heimat Konya allein siegreich behauptet hat.
Wen Erdogan nach dieser Schlappe für ihn und seine Partei mit der Regierungsbildung beauftragt, wird in erster Linie von den künftigen Koalitionspartnern abhängen. Als einzige ausser der HDP konnten die türkischen Ultranationalisten von der MHP richtig zulegen. Sie würden allerdings den ohnedies nicht gerade minderheitenfreundlichen Kurs der bisherigen Regierung weiter versteifen. Doch immerhin den von ihr schon längst scharf kritisierten Sultansallüren von Erdogan einen Dämpfer aufsetzen.
Eine grosse Koalition der AKP mit ihren traditionellen laizistischen Widersachern von der Republikanischen Volkspartei (CHP) ist kaum denkbar. Ausserdem sammelte diese selbst in ihren früheren autoritären Regierungszeiten zu viel Ballast an. Die Wählerschaft hat ihr die jüngste liberale Öffnung nicht abgenommen und sie sogar mit leichten Verlusten bestraft. Das Beste, was der Türkei passieren könnte, wäre natürlich eine Regierungsbeteiligung der HDP. Sie hat im türkischen Kurdistan bis zu 83 Prozent der Stimmen abgeräumt. Die Stunde für ein Ende der ihr aus Ankara auferlegten Ausgrenzung dürfte aber auch jetzt noch nicht reif sein.
Jedenfalls ist der mit einer Rekordbeteiligung von über 85 Prozent ausgesprochene Wählerauftrag klar gegen eine Fortsetzung der Einparteienherrschaft gerichtet und zielt auf breitere Zusammenarbeit ab. Das unterstrichen am Montag die Wahlbeobachter von der OSZE, die auch „erfreuliche Korrektheit“ des Urnenganges bestätigten. Allerdings hielt AKP-Davutoglu in seiner ersten, recht raukehligen Ansprache nach der Wahl am Ziel einer Verfassungsänderung zugunsten von Erdogan fest. Das könnte auf seine Flucht nach vorn in eine bald zweite Wahlschlacht hindeuten. Für die Christen in der Türkei ist so noch lang nicht alles gewonnen.
Von Heinz Gstrein