«Man muss sich hin und wieder streiten – sonst erfährt man ja nichts voneinander.»* Was J.W. von Goethe in diesem Zitat etwas salopp ausdrückt, enthält mehr als nur einen Kern Wahrheit. Wer Streit in der Familie um jeden Preis vermeiden will, bringt sich um wesentliche Erkenntnisse und verhindert gesundes und authentisches Beziehungswachstum. Nur selten lernen wir einander so unverstellt kennen, wie in den Momenten, wo langgehortete Gefühle sich lautstark Luft verschaffen. Unter Druck kommen Dinge an die Oberfläche, die wir, so lange wir im «grünen Bereich» laufen, gekonnt ignorieren oder verdrängen.
Jeder Streit, jeder Konflikt, jede Stichelei bietet uns die Chance, zu erfahren, wie es uns selber, unseren Kindern oder unserem Ehepartner tatsächlich geht, was uns bewegt, umtreibt und belastet. Wer bereit ist, genau hinzuschauen – bei sich selber und bei den anderen – wird Entdeckungen machen, die gegenseitiges Verständnis und Liebe wachsen lassen. Nein, es ist kein Weltuntergang, wenn Sie Ihren Teenager mal anschreien, Ihre jüngeren Kinder sich buchstäblich in die Haare geraten oder Ihr Ehepartner türenknallend in den Garten verschwindet.
Sich «auseinander zu setzen» ist Ausdruck davon, dass uns der andere etwas bedeutet, dass diese Beziehung uns zu wichtig ist, um gleichgültig zu bleiben. Reibung erzeugt Wärme und niemals ist die Luft so klar wie nach einem reinigenden Regenguss oder einem heftigen Gewitter. Gerade harmonieliebende Menschen müssen sich deshalb immer wieder bewusst dafür entscheiden, Konflikte als Chance zu sehen und anzunehmen, dass Spannungen zum Leben gehören wie das Salz zur Suppe. Und übrigens, je weniger Sie krampfhaft versuchen, Streit zu vermeiden, desto weniger wird gestritten. Je weniger Angst wir vor Emotionen haben, desto weniger Macht haben sie über uns.
Natürlich ist es wichtig, fair streiten zu lernen, sich beherrschen zu können und das, was wir fühlen, anständig auszudrücken. Natürlich sollen Kinder lernen, zu reden statt dreinzuschlagen und ihrer Wut mit salonfähigen Worten Ausdruck zu verleihen. Doch das Wort «lernen» beinhaltet eben auch, dass es nicht immer gelingt. Wir sind «in Bearbeitung» und vielleicht würde es nichts schaden, sich diese Tatsache immer wieder mal wie ein Schild um den Hals zu hängen: «Mutter in Bearbeitung», «Vater in Bearbeitung», «Kind in Bearbeitung»… Wir sind unterwegs. Wir haben Zeit, zu lernen.Weil wir verbindlich – ein Leben lang – gemeinsam unterwegs sein wollen, bleiben wir dran, lassen zu, dass «rauskommt, was drin ist». Wir halten die Spannung aus. Wir wagen den kritischen Blick auf uns selber. Wir stellen uns der Wahrheit und lassen uns helfen, wenn wir alleine nicht weiterkommen. «Auseinandersetzungen sind nicht das Ende der Liebe, sondern ein Schlüssel zu tieferem Verstehen und wahrhaftigerer Nähe.»*
Familien-Basteltipp zum Thema Konflikte
Nehmen Sie eine 30 bis 50 cm lange Holzleiste und schrauben Sie so viele Haken hinein, wie Ihre Familie Mitglieder hat. Beschriften Sie die Haken mit den Anfangsbuchstaben der Familienmitglieder und hängen Sie an jeden Haken ein 50 bis 70 cm langes Stück dünnes Seil (Seilstücke möglichst in unterschiedlichen Farben). Wenn ein Familienmitglied merkt, dass es mit einem anderen einen «Knoten» hat (Streit, Angst, Eifersucht, Verletzungen…), dann nimmt es das eigene Seil und knotet es mit dem Seil des betreffenden Familienmitgliedes zusammen. So wird sichtbar: «Da ist ein Knoten», «da braucht es ein Gespräch», «da braucht es Versöhnung» und die Betroffenen können sich überlegen, wann und wie sie versuchen wollen, den Knopf zu lösen. Bei jüngeren Kindern kann es noch notwendig sein, dass die Eltern sie dabei unterstützen, ältere kommen möglicherweise allein zurecht. So werden aus «leidigen Knoten» echte Beziehungsstärker.
*Zitate aus «Der Eltern-Aufsteller, 77 Gedanken und Zitate für das Leben zu zweit». Erschienen im fontis-Verlag Basel.
Regula Lehmann