Unter dem Hashtag #SchweizerAufschrei instrumentalisieren radikale Feministinnen seit Wochen das äusserst leidvolle Thema sexueller Gewalt für ihren Geschlechterkampf. Männer werden dabei pauschal zu Tätern, Frauen zu Opfern gemacht. Doch mit diesem unterkomplexen Ansatz wird man einem der meist tabuisierten Themen in unserer Gesellschaft weder Herr, noch Frau! Im Gegenteil werden auf diese Weise viele Zusammenhänge verschleiert. Unter anderem auch der doppelzüngige Sexualitäts-Diskurs des Aufschrei-Feminismus, der mit den Anliegen von Frauen übrigens sehr wenig zu tun hat.

Von Dominik Lusser

Studien zeigen, dass auch Männer häufig zu Opfern sexueller Gewalt werden – ein laut dem Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Mann und Frau (EBG) übrigens „häufig ignoriertes Phänomen“: Auch Männer erleben „in Paarbeziehungen jede Form von Gewalt, wobei psychische Gewalt durch die Partnerin überwiegt.“ Doch diese Fakten interessieren die Initiantinnen des Schweizer Aufschreis genauso wenig wie die dekonstruktivistische Geschlechterforschung insgesamt. Geht es ihnen doch einzig darum, den feministischen Mythos von der strukturellen Unterdrückung der Frau durch den Mann und somit die permanente Revolution am Leben zu erhalten.

Männer-Demontage

Die Übergriffigkeit des Mannes beginnt gemäss #SchweizerAufschrei und verbündeten „Männer“-Organisationen nicht erst dann, wenn dieser einen Übergriff begeht. Jeder Mann, der nicht den Selbsthass der Gender-Vordenkerin Simone de Beauvoir („man wird nicht als Frau geboren, sondern zur Frau gemacht“) auf sich selbst überträgt ( #auchich bin als Mensch geboren und zum „Mann“ gemacht worden), macht sich mitschuldig an der behaupteten strukturellen Unterdrückung der Frau.

Die Basler Genderforscherin und Aufschrei-Initiantin Franziska Schutzbach vertrat im SRF-Club vom 25. Oktober 2016 die These, es gäbe eine Art gesellschaftliche Übereinkunft, Frauen eher als Objekt denn als Subjekt zu sehen. Diese Struktur komme, wie Schutzbach schon im Frühjahr dem Migros Magazin sagte, in zahlreichen Pornos und sexualisierter Werbung ebenso zum Ausdruck wie im SVP-Werbeslogan: „Unsere Frauen sollen geschützt werden“. Die Subjekt-Objekt-Dichotomie zwischen Mann und Frau ist also laut Feminismus universell. Sie durchdringt alle Lebensbereiche, und hat ihren Grund letztlich in der Geschlechterordnung selbst: Männer üben als Kollektiv Macht über Frauen aus, und werden durch diese Machtausübung erst zu Männern. Frauen werden umgekehrt durch die permanente Unterdrückung durch den Mann erst zu Frauen gemacht. Daraus folgt: Beide, Männer und Frauen, sind nur durch Machtverhältnisse hervorgebrachte soziale Konstrukte, die es zu dekonstruieren gilt. Darin liegt, wie die Gender Studies behaupten, der Ausweg aus den unterdrückerischen Strukturen des Patriarchats und der Heteronormativität. Soweit die feministische Aufschrei-Theorie.

Blinde Flecken der Machtkritik

Um die theoretischen „Erkenntnisse“ der Gender Studies (dem pseudowissenschaftlichen Standbein des Radikalfeminismus) unters Volk zu bringen, forderte Schutzbach im Club u.a. eine Verankerung ihres Aufschrei-Themas in den schulischen Lehrplänen. Doch gäbe es nach wie vor eine „riesige konservative Front“, welche eine gescheite Sexualaufklärung verhindere, und somit zulasse, dass auch Kinder Übergriffe erlebten. Das sei, so die Gender-Forscherin, ein „grusiges Thema“, „ein gesellschaftliches Problem von struktureller sexueller Gewalt“.

Schutzbach ortet hier den Machtmissbrauch jedoch am falschen Ort. Auch wenn die dunklen Seiten der Sexualität sicher in vielen bürgerlichen Familien – aber eben bei weitem nicht nur dort – tabuisiert werden: Die Eltern, die sich am engagiertesten gegen eine staatlich verordnete Sexualerziehung engagieren, sind eben gerade nicht diejenigen, welche die Auseinandersetzung mit sexuellen Themen in der Familie scheuen. Im Gegenteil ist es ihr Anliegen, ihre Kinder behutsam an dieses schöne und sensible Thema heranzuführen und sie gegen eine selbst übergriffige Pädagogik zu schützen. Das Meinungskartell rund um Sexuelle Gesundheit Schweiz (SGS), das den öffentlichen und akademischen Diskurs über Sexualpädagogik in der Schweiz nach Belieben dominiert und in eine gefährliche Richtung lenkt, scheint die Genderforscherin hingegen nicht zu stören.

Es scheint für Feministinnen also unproblematisch, dass die Mainstream-Sexualpädagogik ein Bild der Sexualität vermittelt, das diese weitgehend auf körperliche Lust und somit zum Konsumgut reduziert, das auch ohne feste Bindung und Liebe zu haben ist. Doch ist es nicht erstaunlich, dass ausgerechnet der Aufschrei-Feminismus einer Sexualpädagogik das Wort redet, die offen für ein Recht Jugendlicher auf Promiskuität einsteht, und häufig sogar Pornografie, Prostitution und Sadomasochismus als ganz normale Formen menschlicher Sexualität propagiert? Denn in der Pornografie wird der Sexualpartner, meist die Frau, tatsächlich zum beliebig austauschbaren Objekt erniedrigt.

Pro-Porn-Feminismus?

Dass Pornografie Jugendliche unter Druck setzt und zwangsläufig ein Klima schafft, das Übergriffe begünstigt, ist belegt: Laut Trauma-Therapeutin Tabea Freitag „fragen sich nicht wenige Mädchen und Jungen, ob sie entgegen eigenem Wunsch Oral- oder Analverkehr mitmachen müssen, von denen sie glauben, das gehöre zum Standard.“ In der Arbeit mit Mädchen und Frauen zeige sich dann, dass die Grenze zu sexuellen Übergriffen teilweise fliessend ist, wenn der Druck des Freundes, durch Pornos inspirierte Praktiken mitzumachen, durch Abwertung oder Erpressung verstärkt werde. Dass solche unfreiwilligen sexuellen Erfahrungen keine Seltenheit sind, belegt Freitag anhand von Studien, wonach bis zu zwei Drittel der Mädchen, aber auch ein Drittel der Jungen sexuelle Übergriffe durch Gleichaltrige erfahren. Doch wo bleibt der Aufschrei der Schweizer Feministinnen gegen eine Sexualpädagogik, die so weit geht, sogar ein Recht Jugendlicher auf schlechte Erfahrungen zu propagieren?

Das Verhältnis des Aufschrei-Feminismus zu problematischen Formen der Sexualität ist alles andere als klar. Doch ganz ohne Logik ist das nicht! Es gibt nämlich einen systematischen Grund, warum der Gender-Feminismus mit der sogenannten „Sexualpädagogik der Vielfalt“ gemeinsame Sache macht: Ihnen beiden geht es um Verwirrung und Verstörung der Geschlechterverhältnisse von Mann und Frau. Sie beide haben sich der Dekonstruktion der bipolaren Geschlechterordnung verschrieben. Entsprechend ist auch das Verhältnis vieler Feministinnen zur Pornografie äusserst ambivalent: Es sei, wie die Anarcho-Feministin Wendy McElroy sagt, ein Recht der Frau, „selbst zu definieren, was erniedrigend und was befreiend ist“. Und schliesslich erlaube Pornographie „Frauen, Szenen und Situationen zu geniessen, die im wirklichen Leben Anathema für sie wären“. So z.B. die Phantasievorstellung, „genommen“ und vergewaltigt zu werden. Der Verdacht, dass besonders radikale Vertreterinnen des Feminismus sogar ganz gezielt auf die verletzende und abstumpfende Wirkung von Pornografie setzen, um das Klima zwischen den Geschlechtern immer mehr zu vergiften, ist alles andere als abwegig.

Sex als Waffe?

Es gehört jedenfalls zum anerkannten Arsenal der Gender Studies, das transgressive Potential der Pornografie zu nutzen. Sie interessieren sich – wie der durchschnittlich informierte Bürger meinen könnte – nicht nur deswegen für Pornografie, um darin enthaltene sexistische Diskurse aufzuzeigen, sondern auch, um „subversive und emanzipatorische Potentiale auszuloten“. Interessant seien, wie Laura Eigenmann vom Basler Zentrum für Gender Studies meint, besonders Formen weiblichen Begehrens, die „ohne die Präsenz des Mannes“ auskämen. Genau aus diesem Grund wurden 2013 in einem Workshop der „Fachgruppe Gender Studies“ der Uni Basel auch Sextoys gebastelt.

Hinter dieser Aktion, die damals für einen Mini-Aufschrei ohne Folgen sorgte, steht die Männer verachtende Theorie der spanischen Gender-Feministin Beatriz Preciado. Diese fordert in ihrem Buch „Kontrasexuelles Manifest“ (2003), nicht mehr den Penis als das Original und den Dildo als Kopie zu sehen, sondern den Dildo als Ursprung, der in unterschiedlichsten Varianten existiert. Das Gegenstück zum Dildo sei der Anus, der ins Zentrum der Lust gerückt werden solle, da im Gegensatz zur Vagina jeder Mensch einen besitze. Laura Eigenmann zog schon 2012 in der queeren Jugend-Zeitschrift Milchbüechli aus Preciados Buch den Schluss, dass das heterosexuelle System der Geschlechterrollen bald ausgedient hätte. In der „kontrasexuellen Gesellschaft“ fänden nämlich nicht mehr Männer und Frauen, nicht Schwule und Lesben zueinander, sondern gleichwertige Körper.

„Süsser Schmerz“

Der Radikalfeminismus stellt seit Simone de Beauvoir den heterosexuellen Geschlechtsakt (die Penetration) unter den Generalverdacht des Übergriffs. Damit wird, was in der aktuellen Aufschrei-Debatte immer unausgesprochen mitschwingt, nicht nur der tatsächliche Übergriff zum Problem, sondern der Mann und sein Begehren an sich. Denn dieses sei es, das die Frau in Ehe und Familie bzw. in der heteronormativen Zwangsordnung gefangen halte. Umgekehrt bedient sich der Feminismus sogenannt nicht-normativer Sexualitäten, um die postulierte Zwangsordnung der Zweigeschlechtlichkeit zu dekonstruieren.

Unter dem Titel „Süsser Schmerz“ fand 2014 im Dunstkreis des Basler Zentrums für Gender Studies gar ein Queer-Sadomaso-Filmfestival statt. Auf dem Programm stand u.a. die Geschichte zweier Rentner, die ihren freien Samstag mit Gartenarbeit, Sonnen und etwas Streit geniessen, und sich am Sonntag mit Rosi zur SM-Session treffen. Titel des Films: Ein ganz normales Wochenende in Deutschland. Im Workshop halfen dann BDSM-Insider den Festival-Teilnehmern, „Sadomasochismus in den sexuellen Alltag einzubauen“. Ein Aufschrei gegen den „Süsse Schmerz“ der Gender Studies blieb damals zwar aus. Doch ändert dies nichts an der Tatsache, dass im geistigen Umfeld der Aufschrei-Feministinnen selbst ein äusserst fragwürdiges Verhältnis zu sexualisierter Gewalt herrscht.

Sexualität ist wohl der sensibelste zwischenmenschliche Bereich überhaupt. Sexualität spricht verschiedenste elementare Bedürfnisse, Sehnsüchte und Gefühle des Menschen an. Sie trägt das Potential in sich, tiefstes Vertrauen, Hingabe und Wertschätzung auszudrücken, sowie Lebendigkeit, Mut und Kontrollverlust zu erleben. Mit ihrem stetig lauernden Aggressionspotential ist zwischenmenschliche Sexualität aber gleichzeitig auch besonders verletzbar. Wenn der Gender-Feminismus diesen Bereich gezielt und systematisch zu einem Schauplatz des Geschlechterkampfs erklärt, dann deckt er damit keine Missstände auf. Auch betreibt er damit keine Prävention. Vielmehr ist es der Gender-Feminismus, der die sexuelle Gewalt erst zu einem strukturellen Problem macht. Und das ist nicht nur „grusig“, sondern pervers!