Im Frühjahr 1917 verliess Vladimir Ilyich Ulyanov, besser bekannt als Lenin, Zürich in Richtung Russland. Dort startete er im November 1917 die erste marxistische Kulturrevolution der Weltgeschichte. Genau 99 Jahre später sind an der Universität Zürich die neomarxistischen Gender Studies zu einem eigenständigen Fachbereich ausgebaut worden. Was das eine mit dem anderen zu tun hat, ist derzeit noch kaum ins öffentliche Bewusstsein getreten, obwohl dies für die Zukunft unserer Gesellschaft geradezu überlebenswichtig wäre.

Von Dominik Lusser

Die ideologischen Gemeinsamkeiten zwischen der kommunistischen Utopie der klassenlosen Gesellschaft und der genderistischen Utopie eines von biologischen Bedingungen befreiten Menschen sind verblüffend. Die Gender Studies sind eine als Wissenschaft getarntes, radikales gesellschaftspolitisches Programm. Sie sind nur eine neue Gestalt jenes Kulturmarxismus, dessen erster Umsetzungsversuch in Russland in einer der grössten sozialökonomischen Katastrophen der Menschheitsgeschichte endete. Es sollte zu denken geben, was Michael Gorbatschow in „Perestroika“ über das Scheitern der kommunistischen Gesellschaft in der Sowjetunion schrieb: „Wir haben erkannt, dass viele unserer Probleme im Verhalten vieler Kinder und Jugendlicher – in unserer Moral, der Kultur und der Produktion – zum Teil durch die Lockerung familiärer Bindungen und die Vernachlässigung der familiären Verantwortung verursacht werden.“

Schon für Karl Marx und Friedrich Engels war die Überwindung der „bürgerlichen“ bzw. natürlichen Familie fester Bestanteil auf dem Weg zum „neuen Menschen“: „Der erste Klassengegensatz der Geschichte fällt zusammen mit der Entwicklung des Antagonismus von Mann und Weib in der Einzelehe“. Die Befreiung der Frau verlangt deren Integration in den Produktionsprozess – eine Forderung, die inzwischen unter dem Euphemismus „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ sogar im Programm „christlicher“ Mitteparteien fest verankert ist. Durch die Ersetzung der häuslichen Erziehung durch die gesellschaftliche sollte ferner die „Ausbeutung der Kinder durch ihre Eltern“ aufgehoben werden.

Der „neue Mensch“

Die ersten Jahre der russischen Revolution brachten die Abschaffung der „bürgerlichen“ Familie und Sexualmoral erstmals auf die politische Agenda. Die Bolschewikin Alexandra Kollontai, eine Theoretikerin der ersten Stunde, setzte der monogamen Ehe die „erotische Kameradschaft“ entgegen. Kollontai selbst hatte nach fünf Jahren Ehe ihren Mann und ihren Sohn verlassen, um sich politisch zu engagieren. „Ich wollte frei sein“ – kommentierte sie diesen Schritt später. Sie immatrikulierte sich 1898 an der Universität Zürich für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften und war dort auch für die sozialistische Bewegung tätig. 1917 schloss sie sich der leninistischen Revolution an.

Die „neue Frau“ sollte laut Kollontai die Rolle der Mutter auch im Rahmen der neuen Beziehungsformen übernehmen, da der Staat sie dabei durch Erziehungseinrichtungen unterstützen würde. Durch die Vergesellschaftung der Hausarbeit würde der Staat die Frau von „unproduktiver Arbeit“ wie Kochen und Kinderbetreuung befreien und so eine Doppelbelastung verhindern. Von vielen ihrer männlichen Parteikollegen abgelehnt, konnte Kollontai ihre Agenda aber nicht ungehindert durchsetzen. Dafür kam es im Westen ab den 60er-Jahren zu einer Kollontai-Renaissance. Immer konsequenter umgesetzt wird ihr Programm aber erst, seit Gender Mainstreaming 1995 bei der UN-Weltfrauenkonferenz in Peking offiziell auf die politische Agenda der Vereinten Nationen gesetzt wurde.

Der Freudomarxismus der Frankfurter Schule stand sexualpolitisch noch ganz im Zeichen des unterdrückten Triebes, den es von der bürgerlichen Moral zu befreien und für die Subversion der Gesellschaftsordnung zu nutzen galt. Die Inputs des Poststrukturalisten Michel Foucault ab den 1970er und der Gender-Theoretikerin Judith Butler ab den 1990er-Jahren führten allerdings nach und nach zu einer Radikalisierung der marxistisch motivierten Gesellschaftskritik: Anstatt die „Natur“ bzw. den Trieb gegen die bürgerliche Gesellschaft zu mobilisieren, stellten diese neuen Ansätze gerade die Natürlichkeit der Sexualität selbst in Frage. Der Kampf galt von nun an nicht mehr nur der Familie, sondern auch der Zweigeschlechtlichkeit, die dieser zugrunde liegt.

Produkt von Machtverhältnissen

Ginge es den Gender Studies, wie die NZZ verharmlosend beschreibt, tatsächlich nur darum, die Bedeutung von Geschlecht und Geschlechterdifferenz auf kultureller, psychischer und gesellschaftlicher Ebene zu untersuchen, wäre nichts gegen sie einzuwenden. Doch dem ist nicht so. Die Gender Studies reduzieren – genauso wie schon Marx – den Menschen auf ein beliebig veränderbares soziales Konstrukt. Sie nehmen nicht, wie oft behauptet wird, lediglich eine angebrachte Differenzierung zwischen Natur und Kultur vor. Die Gender Studies führen einen Krieg gegen die für die Art Mensch grundlegende zweigeschlechtliche Ordnung, für den sie Angehörige sexueller Minderheiten schamlos instrumentalisieren. Für die Gender-Theorie sind die Kategorien Mann und Frau nichts objektiv Vorgegebenes, sondern soziale Kategorien, die – wie Foucault sagen würde – in einem gesellschaftlichen Diskurs über Geschlecht erst hervorgebracht werden.

Es geht bei diesem Diskurs nicht um eine durch objektive Erkenntnis geleitete Auseinandersetzung darüber, wie unsere Gesellschaft den gleichberechtigten Bedürfnissen von Frauen und Männern immer besser gerecht werden könnte. Wissen und Wissenschaft sind, wie Foucault pointiert formuliert, „machthaltiger Zugriff auf die Welt“ bzw. den Menschen. Wissen ist Spiegelbild von Machtverhältnissen und zementiert diese gleichzeitig. Machtverhältnisse bestimmen die gesamte lebensweltliche und institutionelle Praxis einer Gemeinschaft, ja sogar die Bedürfnisse der Menschen selbst. Eine derart einseitige sozialwissenschaftliche Theoriebildung aber verneint jedes objektive Wissen über die Natur des Menschen, was mittlerweile – zumindest in Deutschland – den Widerstand namhafter Naturwissenschaftler gegen die Pseudowissenschaft Gender Studies hervorruft. Ein durchaus legitimer machtkritischer Ansatz wird so übersteigert, dass die Wahrheitsfrage vollumfänglich durch die Machtfrage ersetzt wird. Der springende Punkt aber ist der: Weil die Gender Studies jede Wahrheit über den Menschen verneinen, können sie der kritisierten Macht anderer nur ihre eigene, erst recht willkürliche Macht entgegensetzen.

Geschlechterkampf

Damit ist der Rahmen vorgezeichnet, innerhalb dessen sich die Gender Studies bewegen. „Unser Zugang zur Welt beruht stets auf Interpretationen“, betonte Anglistikprofessorin Elisabeth Bronfen unlängst anlässlich des Einweihungsakts des Fachbereichs Gender Studies in Zürich. Eine wichtige Aufgabe der Genderforschung bestehe darin, diese zu reflektieren und zu verändern. Woran die Veränderung aber Mass nehmen soll, können die Gender Studies wissenschaftlich nicht begründen. Dafür wirkt die sozialistische Utopie des 21. Jahrhunderts, die geschlechterlose Gesellschaft, umso stärker in die genderistische Theorie und Praxis hinein. Der Weg dazu ist die Dekonstruktion, die Subversion der Geschlechterordnung und der darauf aufbauenden Kultur. Bronfen ermuntert das neue Fachgebiet, wie die NZZ berichtet, zum Querdenken, oder „queer“-Denken, und zum „Wiederlesen des kulturellen Kanons“. Das mögliche Ergebnis einer durch Gender Studies und Gender-Politik bearbeiteten Gesellschaft beschrieb Andrea Maihofer, Leiterin des Basler Zentrums für Gender-Studies, bereits 1995 in einem programmatischen Interview: Es sollte künftig sowohl Individuen geben, „die sich nach wie vor als Männer und Frauen verstehen“ – die aber biologisch nicht unbedingt Männer bzw. Frauen sein müssen –, „daneben aber auch andere, die das für längere oder kürzere Phasen ihres Lebens tun, andere, die ihr Geschlecht mehrmals am Tag wechseln und wieder andere, die überhaupt jede Festlegung zu vermeiden suchen, und all dies in Verbindung mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen.“ Diese Vision als Befreiung zu verkaufen ist absurd. Wenn nämlich der Mensch nach genderistisch-marxistischer Doktrin seinem Geschlecht nach durch und durch Produkt seiner sozialen Umgebung sein soll, wie sollte er es da nicht auch als Individuum sein? Auch wenn Maihofer dies bestreitet: Freiheit kann es in diesem Weltbild nicht geben. Das aber wiederum legitimiert die linken Genderisten, Frauen und Männer auch gegen ihren vermeintlich gesellschaftlich konditionierten Willen „zwangszubefreien“. Wenn die Natur keine Rolle spielt, wenn alle Zugänge zur Wirklichkeit nur machtgesteuerte Interpretationen sind, dann ist Genderforschung gleichbedeutend mit dem Kampf darum, „wer bestimmt, was weiblich, männlich oder weder noch ist“. Bei Maihofer z.B. wird das Geschlecht kurzerhand zum „situativen Resultat feministischer Politik“ erklärt.

Gewiss, die Wirklichkeit ist uns in vielem ein Rätsel. Vieles ist Interpretation. Aber nicht alles, und schon gar nicht die ebenso triviale wie überlebenswichtige und schöne Tatsache, dass Menschen, abgesehen von einigen anormalen Ausnahmen, als Männer und Frauen geboren werden. Hier wird unter dem Deckmantel wissenschaftlich scheinbar legitimierter Skepsis und Erkenntniskritik nicht nur der gesunde Menschenverstand betrogen, sondern der Mensch im Kern seiner Identität getroffen. Fast ein Jahrhundert kulturmarxistischer Experimente und Menschenversuche wären eigentlich genug. Doch 99 Jahre nach der Oktoberrevolution scheint der Kulturmarxismus überall zu sein. Wie kann es nur sein, dass Lenin und Kollontai nach Zürich zurückkehren, und nicht einmal die Bürgerlichen Widerstand leisten?