Die Aufklärung ist „ungleugbar“ auf dem Boden des Christentums entstanden, der ersten Religion, die aus ihren heiligen Texten keine rechtliche und politische Ordnung abgeleitet hat. Die tatsächliche Integration von Muslimen verlangt darum deren Abkehr von einem politischen Verständnis der Religion. Der säkulare Staat wiederum wird die Herausforderung der zunehmenden Präsenz von Muslimen nur dann meistern können, wenn er sich auf seine christlichen Wurzeln besinnt. So der Zürcher Philosoph und Theologe Martin Rhonheimer in der NZZ vom 24. Januar 2017.
Die vom Christentum geprägte Zivilisation basiert laut Rhonheimer auf dem römischen Recht, das die Kirche im Mittelalter zu ihrem eigenen, dem Kirchenrecht ausbaute. Kirchenjuristen hätten die altrömische Tradition des Naturrechts erneuert und transformiert. Dieses beruht auf der Fähigkeit der natürlichen Vernunft, Recht und Unrecht zu unterscheiden. „Darauf basierend reinigten sie überkommenes germanisches Gewohnheitsrecht von diskriminierenden und antirationalen Elementen“ und „bereiteten so den Boden für das moderne Menschenrechtsdenken.“ Ferner etablierte die Kirche „Universitäten als akademische Lehr- und Forschungsräume und förderte damit trotz gelegentlichen Widerständen eine Naturphilosophie, aus der die moderne Naturwissenschaft entstand.“
Vernunft und Glaube
In der Frühzeit der Dynastie der Abassiden (750–1258) kannte, wie Rhonheimer schreibt, auch der Islam eine theologische Richtung (der Mu’taziliten), die Vernunft und Glaube in Einklang bringen wollte. Doch sei sie bald von einer Orthodoxie verdrängt worden, die einzig Koran und Scharia-Recht als Quellen der Erkenntnis der Weltordnung zuliessen: „Al-Ghazali (1058–1111) schliesslich erklärte, die Suche nach Gesetzen und Ordnung der Natur, ja jegliche rationale Reflexion des Glaubens sei Leugnung von Gottes absoluter Freiheit und Allmacht und somit Blasphemie.“ Dieser „intellektuelle Selbstmord“ (Robert Reilly) wirke in der islamischen Kultur bis heute nach.
Ganz anders die mittelalterliche Kirche in Europa: „Unter Historikern unbestritten, war es die sogenannt päpstliche Revolution des Hochmittelalters, die für die moderne Rechts- und Staatsentwicklung die Grundlagen legte. Sie entsakralisierte König- und Kaisertum und erneuerte damit den Dualismus von weltlicher und geistlicher Gewalt.“ Auch habe das Christentum das Individuum erfunden: „Auf der zur Antike konträren Idee, alle Menschen seien gleich, nämlich vor Gott, und als Individuen selbst verantwortlich für ihr Heil, basiert die spätere Kultur der Freiheitsrechte des Individuums.“
Aufklärung aus christlichen Wurzeln
Dies alles führt Rhonheimer zum Schluss, dass der säkulare, freiheitliche Staat auf dem Humus einer Zivilisation christlicher Prägung gewachsen, ja erst möglich geworden ist. „Die Aufklärung war eine reife Frucht dieser Entwicklung. Als solche war sie begründeter Protest gegen die intolerante und repressive Allianz von Staat und Kirche, wie sie infolge der Glaubensspaltung – als Friedensformel zur Beendung der verheerenden Glaubenskriege, also aus politischen Gründen – im konfessionellen Staat der Neuzeit entstanden war.“
„Der Aufklärung war aber“, wie der Züricher Philosoph anderseits zu bedenken gibt, „auch der fragwürdige Impetus eigen, Offenbarungsreligion und Kirchenglauben ausmerzen und damit ihre eigenen Voraussetzungen tilgen zu wollen.“ Das erst habe ihr die Feindschaft der Kirche eingebracht. „Denn der freiheitliche säkulare Staat ist aus dem spannungsvollen Gegensatz von weltlicher Macht und Kirche als Institution des ewigen Heils entstanden. Die Freiheitlichkeit der Moderne war und ist immer dann in Gefahr, wenn sie sich an die Stelle der Kirche setzen, wenn ihrerseits die Politik Heilsverheissungen anbieten will.“ Die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts seien darum zurecht als „Anti-Religionen“ bezeichnet worden.
Und wie steht es mit dem Islam? Diesen hält Rhonheimer für eine „politische Religion“: „Seine Schöpfungsordnung ist zugleich die Ordnung des Heils. Eine Scheidung von religiösem und weltlichem Recht, von religiöser und politisch-sozialer Ordnung gibt es nicht im Islam.“ Der Islam sei nicht das, was unsere unter christlichen Voraussetzungen entstandene säkulare Rechtsordnung unter Religion versteht: eine von der politischen, rechtlichen und sozialen Ordnung separate Ordnung des Glaubens.
Islam als politische Religion
Dieser genuin christliche Dualismus steht, so Rhonheimer „im Widerspruch zum Wesen des Islam als integrale religiöse, politische, rechtliche und soziale Ordnung“. Von daher rühre auch die Mühe des Islam, das Ethos anzuerkennen, aufgrund dessen wir in einer vom Christentum geprägten Kultur zu leben gelernt hätten: „dass Menschen verschiedenen Glaubens und unterschiedlicher Moralvorstellungen auf der Grundlage eines Gefüges von religionsunabhängigen, säkularen rechtlichen Regeln und auf der Basis bürgerlicher Gleichheit zusammenleben.“
Die grösste Herausforderung, mit der die freiheitliche westliche Gesellschaft sich künftig auseinandersetzen muss, besteht für Rhonheimer „darin, dass die Anerkennung des säkularen Ethos bürgerlichen Zusammenlebens dem politisch-religiöses Selbstverständnis aller Varianten des Islam widerspricht.“ Die zur gelingenden Integration notwendige Veränderung des Islam – deren Gelingen der gebürtige Jude Rhonheimer offen lässt – „müsste die Abkehr vom politischen Verständnis der eigenen Religion einschliessen und damit eine unzweifelhafte Anerkennung des Primats der freiheitlich säkularen Rechtsordnung über die Scharia“. Dazu müsste der Islam, wie Rhonheimer bei anderer Gelegenheit sagte, „wesentliche Elemente seiner theologischen Substanz aufgeben.“
Herausforderungen der Zukunft
Doch wird der Westen, wie Rhonheimer unterstreicht, der Herausforderung des in seinen Gesellschaften präsenten Islam nur gewachsen sein, „wenn er nicht die christlichen Wurzeln seiner politischen und rechtlichen Kultur verleugnet.“ Diese Mahnung will der Philosoph aber nicht als „Ruf nach einer neuen christlichen Leitkultur“ verstanden wissen. Vielmehr plädiert er für die vom Christentum und seiner Scheidung von Politik und Religion ermöglichte säkulare „Leitkultur“ des freiheitlichen Rechtsstaates, der sich gegenüber religiösen Wahrheitsfragen sowie der religiösen Zugehörigkeit seiner Bürger indifferent verhält. Eine solche Leitkultur gilt es laut Rhonheimer von allen Bürgern einzufordern und gegen alle Versuche zu verteidigen, eine mit unserem Rechtsverständnis inkompatible Islamisierung zuzulassen.
Der in Rom lehrende Philosoph warnt allerdings ebenso vor der Gefahr einer „sich auf die religionsfeindlichen Aspekte der Aufklärung berufende Ächtung religiöser Heilsverheissungen als freiheitsfeindlich.“ Eine solche Ächtung hätte „totalitäre Züge“. Sie würde indirekt den Staat überhöhen und eine säkular-freiheitliche politische Kultur untergraben.“ Denn diese Kultur lebe ja gerade vom Gegenüber heilsverheissender Institutionen, die den Staat – im Interesse der Freiheit – davor bewahre, selbst soziale oder politische Heilsversprechen anbieten zu wollen.