Die Beschäftigung mit ADHS geht heute kaum einmal an Eltern von Grundschulkindern vorüber. Im Allgemeinen meint man, es handle sich um eine neue seelische Erkrankung besitzt dieses Verhalten doch immerhin einen erklärenden Namen: Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätssyndrom. Was also ist das? Ein Fall auf jüngstem Forschungsstand mag der Information dienlich sein.

Von Christa Meves

Ein Vater berichtet: Die Lehrerin seines ältesten Sohnes im dritten Grundschuljahr habe um einen Besuch der Eltern in der Schule gebeten. Bei dem Jungen sei – wie übrigens bei der Mehrzahl der Kinder in dieser Klasse – nach einer Expertenuntersuchung ADHS festgestellt worden. Die Eltern seien deswegen ersucht worden, jeweils für ihre Kinder fachliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Seitdem würden die meisten Eltern ihren Kindern unter kinderärztlicher Observanz eine Substanz mit Inhaltsstoffen wie z. B. Methylphenidat in täglicher Einnahme verabreichen. Bei diesem Medikament handelt es sich allerdings – wie jeder Mensch durch googeln herausfinden kann – um eine Aufputschdroge, die zunächst vor allem bei Arbeitsstress von Studenten in den USA Erfolge gezeitigt hatte. Unverzüglich werden deswegen Substanzen dieser Art tonnenweise in Deutschland für Schulkinder zur Verfügung gestellt – wie man meint – mit einigem Erfolg.

Allerdings ist damit natürlich für viele Verantwortungsträger das Problem nicht vom Tisch. Ist eine solche Gabe über längere Zeit in Kinderhirne hineingegeben überhaupt vertretbar? Ist sie der unausgereiften Hirnentwicklung der Kinder wirklich dienlich und nicht vielleicht sogar mit noch nicht erkennbaren Nachwirkungen sogar schädlich? Vorab Professor Manfred Spitzer, Ulm, belegt das z. B. wissenschaftlich in aller Öffentlichkeit seit vielen Jahren.* International branden darüber die unterschiedlichen Vorstellungen unter den Forschern immer noch in einer verwirrenden Fülle hoch, ohne für die praktische Lösung des Problems befriedigend und hilfreich zu sein.

Der Vater meines Beispiels liess sich jedenfalls in einer verantwortungsbewussten sachlichen Weise beunruhigen und übergab das Problem in die Hände einer bewährten Kinderpsychotherapeutin. Diese schlug den Eltern im Verbund mit dem Kind lediglich eine Veränderung in dessen Alltags-Dominanzen vor. Sportgeräte wurden angeschafft, und der Vater selbst begab sich nach Feierabend mit seinem Sohn zusammen unter die Fussballspieler. Der einseitige Schwerpunkt des Jungen, der auf hoher Schiene eher mit abstrakten intellektuellen Fragen beschäftigt war, wurde so auf ein gutes Mittelmass seiner Betätigungen verändert. Gemeinsamkeiten, besonders mit dem Vater, z. B. Abenteuerwanderungen im Umfeld, Ruderpartien am Wochenende etc. wurden gemeinsam geplant und durchgeführt. Die Unruhe hatte ihre Ursache in diesem Fall in der Unausgewogenheit der Alltagsbeschäftigungen dieses Kindes. Das entsprach nicht ganz ausreichend der Entfaltungsstufe im Grundschulalter. Nach wenigen Wochen schon zeigte sich, dass der Junge seine Schulaufgaben mit der nötigen Konzentration zustande brachte. Und dieser therapeutische Erfolg ist nicht im Mindesten ein Einzelfall. Meine Erfahrung als Kinderpsychotherapeutin hat mich gelehrt, das zu verabreichende „Medikament“ gegen motorische Unruhe sollte heissen: mehr Beschäftigung in dualer Weise mit der hauptsächlichen Bezugsperson – und das keineswegs unter Ausschluss einer lustvollen sportlichen Betätigung.

Hinzugefügt werden muss aber auch, dass praktisch arbeitenden Kinderpsychotherapeuten die motorische Unruhe als ein Symptom einer diagnostizierbaren Verhaltensstörung schon seit vielen Jahrzehnten bekannt ist und sich nicht selten mithilfe von Verhaltensänderungen aus der Welt schaffen lässt. Notwendig dazu ist eine Diagnose des Hintergrunds vom Erscheinungsbild der Störung. Denn grundsätzlich beruht die Unruhe auf dem völlig unbewussten Versuch des Kindes, das Gefühl von etwas Unzureichendem in ein seelisches Gleichgewicht zu bringen. Noch einmal sei betont: Die Motivation für dieses diffuse Suchverhalten ist absolut nicht im Bewusstsein des Kindes. Deshalb fühlt es sich gequält, wenn ratlose Erwachsene es immer wieder nach dem Warum seiner Auffälligkeit fragen.

Der nächste Schritt für den Therapeuten heisst deshalb, eine genaue Vorgeschichte des Kindes zu erfragen und seine momentane Situation in seinem Umfeld zu ergründen. In den meisten Fällen setzt das eine umfängliche Beratung der fast immer verständigen Eltern voraus. Aber die Palette dieser Möglichkeiten ist gross und vielfältig. Tritt die Unruhe erst in jüngster Zeit auf, so hat sie ihre Ursache manchmal auch im Mitempfinden einer umfänglichen, als lebensbedrohlich erlebten Unsicherheit in der allgemeinen Situation des Kindes. Viele Kinder empfinden z. B. bereits die nachhaltig sichtbare Entfremdung der Eltern voneinander als gefährlich. Sie befürchten eine baldige Scheidung. Nicht selten reicht das zur Auslösung des Symptoms.

Aber nicht weniger massiv liegt die Ursache in unzureichend vollzogenen Prägungsvorgängen der Entfaltung notwendiger Lebenstriebe in den frühen Lebensjahren der Kinder oder auch in zu frühen Kollektivierungen. Eine pointierte Diagnose und mehr Nähe zur Hauptbezugsperson sind hier massgebliche Schritte zur Heilung. Von dieser Sichtweise aus stellt sich oft sogar verhältnismässig rasch eine seelische Beruhigung des Kindes ein und damit auch seine neu erwachte Freude, in grosser Menge neugierig und aufmerksam zu lernen, was es in dieser Welt auch nur zu lernen gibt.

Es lohnt sich, so lässt sich erfahren, die wahren Ursachen des Fehlverhaltens zu ergründen und von dieser Basis aus anzugehen, statt es vorschnell beim oberflächlichen Kurieren an den Symptomen zu belassen. Denn die Gefahr von Nachwirkungen auf das unausgereifte Gehirn des Kindes ist damit nicht ausgeräumt. Wie oft haben Pharmazie und Medizin die Unschädlichkeit eines Medikaments später als einen katastrophalen, folgenreichen Irrtum eingestehen müssen!

 

* Manfred Spitzer (2013), ADHS – Das Zappelphilipp-Syndrom, https://www.amazon.de/ADHS-Das-Zappelphilipp-Syndrom-Manfred-Spitzer/dp/3902533498 [03.05.2019]