Das Selbstverständnis des Islam wurzelt in einem irrationalen Voluntarismus, der grobe Widersprüche in Kauf nimmt. Kann eine solche Religion wahr sein? Und warum ist diese Frage überhaupt von Bedeutung? Der kürzlich verstorbene amerikanische Philosoph James V. Schall ist diesen Fragen über viele Jahre nachgegangen.
Von Dominik Lusser
„Die Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Wesen der islamischen Religion kann nicht länger aufgeschoben werden,“ appelliert der Philosoph James V. Schall in seinem posthum erschienenen Buch „Der Islam – Friedensreligion oder Gefahr für die Welt?“ (Media Maria Verlag, 2019). Das Werk umfasst eine Sammlung von Kommentaren zum Zeitgeschehen, die der Autor zwischen 2002 und 2018 in englischer Sprache publiziert hat. „Das vorliegende Buch ist also eine Chronik, eine Bilanz der Ereignisse und meiner Bemühungen, sie im Licht der Philosophie, im Licht des Islams selbst und im Licht der – christlichen wie muslimischen – Offenbarung zu verstehen“, schreibt der im April 2019 verstorbene Jesuit in der Einleitung.
Schall lehrte bis 2012 als Professor für politische Philosophie an der Universität Georgetown (USA). Er vertritt die These, dass die Wahrheitsfrage bei der Analyse politischer Systeme – und dazu gehört auch der Islam – unumgänglich ist: „(…) um ein Regime korrekt darzustellen, benötigen wir ein Urteilskriterium, anhand dessen wir entscheiden können, ob ein beliebiges Regime gut oder schlecht ist. Ohne einen solchen Massstab – mit anderen Worten: ohne eine universale Philosophie – beschränken wir uns darauf, substanzlose Namen zu vergeben.“
„Terroristen“ sind fromme Menschen
Die Ursache der gegenwärtigen Probleme mit der islamischen Expansion sind Schall zufolge auch darin zu suchen, dass man vor der Frage, was den Islam eigentlich im Kern ausmacht, jahrhundertelang zurückgescheut ist. So gebe es etwa auf katholischer Seite kein päpstliches Lehrschreiben zu der brennenden Frage „Was ist der Islam?“. Es genügt Schall zufolge nicht, darüber zu sprechen, dass man die Anhänger anderer Religionen „respektiert“, solange man sich nicht näher damit befasst hat, was sie glauben und wie sie ihren Glauben praktizieren. Es müsse endlich auch darum gehen, auf behutsame Weise nach der „Wahrheit“ dessen zu fragen, was die Muslime selbst über den Islam dächten: „Ist der Islam wahr oder ist er nicht wahr?“ Allerdings könnten wir diese Frage nicht stellen, „wenn wir nicht glauben, dass die Wahrheit als solche existiert.“ Ansonsten bliebe uns, so Schall, nur „die Macht, und das heisst, dass immer der Stärkere gewinnt“.
Gerade das Thema des Selbstmordattentäters führt uns laut Schall ganz nah an die religiöse Frage heran, mit der wir uns befassen müssen. Folge man der muslimischen Theologie, seien die Selbstmordattentäter im Himmel. „Was sie tun, ist nach religiösen Begriffen voll und ganz gerechtfertigt.“ Wir könnten diese Denkweise nicht einfach als „heillose Ahnungslosigkeit“ abtun, warnt Schall. Der Selbstmordattentäter behaupte, es sei legitim, sich selbst und andere zu töten, um sich der grössten Feinde des Islams zu entledigen und letzten Endes dafür zu sorgen, dass die Welt der Herrschaft Allahs unterworfen werde. Die Wurzel des Phänomens, für das ausserhalb des Islams die „seltsame Bezeichnung ‚Terrorismus‘“ kursiere, ist für Schall klar theologischer Natur: „Es wird selten als das bezeichnet, was es ist, nämlich eine als Akt der Frömmigkeit verstandene religiöse Unternehmung zu dem Zweck, die Welt zu erobern.“ Der Punkt aber, auf den Schall hinauswill, ist der: Nur wenn der Islam nicht wahr ist, können diese Ritualmorde als das gesehen werden, was sie sind: objektiv böse.
Im Zentrum des Islam sieht Schall die Theorie des Voluntarismus, der das islamische Denken allem Anschein nach dazu befähigt, Mittel des Vorwärtskommens zu rechtfertigen, die nach jedem vernünftigen Massstab unmoralisch sind. Dieser unhaltbare Voluntarismus, auf den Papst Benedikt XVI. 2006 in seiner Regensburger Vorlesung hingewiesen habe, sei „der intellektuelle Boden, in dem das islamische Selbstverständnis wurzelt“. Benedikt folgend weist Schall allerdings auf die „Ironie der Geschichte“ hin, „dass der Voluntarismus, der für das muslimische Denken so massgeblich werden sollte, beinahe identisch ist mit der Willensphilosophie, die dem öffentlichen Leben der westlichen Welt in grossen Teilen zugrunde liegt.“ Dieser säkulare Voluntarismus mit seinen diversen Erscheinungsformen wie dem Rechtspositivismus und dem radikalen Konstruktivismus der Postmoderne dürfte, wie mir scheint, mit ein Grund sein, wieso wir uns schwertun, die Wahrheitsfrage bezüglich des Islam zu stellen.
Ungebundener Wille
Voluntarismus ist Schall zufolge „die philosophischtheologische Auffassung, dass es in den Dingen oder in der menschlichen Natur keine rationale Ordnung gibt. Hinter der gesamten Wirklichkeit steht ein Wille, der immer auch anders sein könnte. Er ist an keinerlei Wahrheit gebunden. Von jeder Position kann mit demselben Recht immer auch das Gegenteil gelten.“ Wenn aber alles, was existiere, nicht auf der Vernunft, sondern auf einem göttlichen oder menschlichen Willen basiere, dann könne das Böse gut und das Gute böse sein. Im Islam ermöglicht der Voluntarismus, „den Theologen die Aussage – und Allah die entsprechende Weisung – (…), dass Gewalt sowohl richtig als auch falsch sei und dass Allah, wie Texte aus dem Koran belegen, seine Meinung ändern und Gutes für böse oder Böses für gut erklären könne.“ In einem voluntaristischen System zähle nicht die Folgerichtigkeit, sondern allein Allahs Wille, dessen Macht durch nichts – auch nicht durch das Nichtwiderspruchsprinzip – eingeschränkt werden dürfe.
In der Logik es islamischen Voluntarismus gibt es keine objektive Ordnung, an der Handlungen gemessen werden könnten – kein von Natur aus von allen Menschen einsehbares Recht, kein Naturrecht als gemeinsame Basis. Weil für gläubige Muslime die Dinge immer auch anders sein können, stellt auch das widersprüchliche Verhältnis zwischen Vernunft und islamischer Offenbarung kein Problem dar, wie Schall anhand der Geschichte der arabischen Philosophie im Mittelalter zeigt: Im Rahmen einer Art Zwei-Wahrheiten-Lehre wurden Philosophie und Glaube unvermittelt nebeneinandergestellt und gelten gelassen. Der Theologe Al-Ghazali (1055-1111) schliesslich verurteilte die Naturgesetze als Beschränkung von Allahs freiem Willen. Damit war der Islam definitiv in Widerspruch zur Wissenschaft geraten, welche die Existenz stabiler Zweitursachen voraussetzt.
Der Koran stammt nach islamischer Lehre direkt aus der Ewigkeit Allahs. Er soll Mohammed übergeben worden sein und keine irdische Vorgeschichte haben. Diese Auffassung lässt sich laut Schall freilich nicht mit der Tatsache vereinbaren, dass es abweichende Koranversionen gibt, die zum Teil gezielt unterdrückt worden sind. Eine Untersuchung des Koran mit den Methoden der wissenschaftlichen Textkritik, an der man schon lange in Berlin arbeite, dürfte darum „aller Wahrscheinlichkeit nach beweisen, dass der Koran nicht ist, was er zu sein vorgibt“. Die Existenz von Vorgängertexten, aus denen der Koran zusammengewoben ist, würde auch seine innere Widersprüchlichkeit erklären. Die muslimische Orthodoxie erklärt diese allerdings anders. Aus dem Bedürfnis heraus, die Widersprüche im Koran zu rechtefertigen, sei – so Schall – die philosophische Theorie des Voluntarismus entstanden „als einzige Möglichkeit, an dem festzuhalten, was der Koran de facto sagt“.
Mangelnder Realismus
Schall sieht aber auch die blinden Flecken der westlichen Welt: Allein daraus, dass der Islam eine Religion ist, kann man nicht schliessen, dass er nicht gewalttätig ist oder dass er, wenn er gewalttätig ist, seine eigenen Prinzipien verrät. Die meisten Zeitgenossen im Westen gingen in ihrem Multikulturalismus aber irrtümlicherweise davon aus, dass alle Religionen an unterschiedliche Erscheinungsformen „desselben“ Gottes glaubten. Dem Realisten hingegen bietet sich laut Schall eine ganz andere Sicht: „Was wir heute zu unserer (…) grossen Überraschung erleben, ist lediglich ein weiterer Schritt im Rahmen der weltweiten historischen Mission, die der Islam als seinen von Allah gewollten Sendungsauftrag betrachtet: Dieses Ziel inspiriert die reale und immer wieder aufflackernde Vitalität, der wir in der islamischen Geschichte begegnen. Dass wir es nicht beim Namen nennen, hängt nicht mit dem Islam, sondern mit unseren eigenen, völlig anderen philosophischen, religiösen und rechtlichen Begriffen zusammen.“ Und so sei es nicht selten unsere eigene Kultur, die uns daran hindere, politische Realisten zu sein.
Schall zufolge muss, wer den Islam verstehen will, „bei seiner Geschichte, seinem Buch und seiner Philosophie beginnen (…), die erklärt, weshalb so viele widersprüchliche Dinge oft ohne das geringste Murren akzeptiert werden.“ Ferner stimmt der Jesuit mit „der berühmten Auffassung überein, dass ‚Ideen Konsequenzen haben‘“. Sowohl die strategischen „Stärken“ (z.B. seine Einfachheit) wie die Schwächen des Islam seien auf der gedanklichen Ebene angesiedelt. Würden wir nun, so Schall, bei dem Versuch, den Islam zu verstehen, „den Voluntarismus als einzige Basis akzeptieren, dann hat letztlich der recht, der die Macht hat.“ Nur unter der Bedingung, dass es in Gott, in unseren Seelen und in den Dingen einen wirklichen logos, eine Vernunft gibt, kann es Schall zufolge eine andere Herangehensweise an den Islam geben. Dann nämlich könnten wir in seiner „Brüchigkeit“ – das heisst in seiner Beziehung bzw. fehlenden Beziehung zu Wissenschaft und Vernunft – den Königsweg erkennen, um zu sehen, was der Islam wirklich ist: „Der Islam ist eine Religion. Er befürwortet Gewalt als Mittel, um sein hehres Ziel zu erreichen. Doch im Grunde ist er ausserstande, die tatsächlichen Ursprünge seiner eigenen Korantexte zu erklären und zu rechtfertigen, dass er ‚Ungläubige‘ wie Aggressoren behandelt.“
Allah und Leviathan
Schalls Buch ist ein beeindruckendes Plädoyer für die Wahrheitsfrage in der Auseinandersetzung mit dem Islam, und kann darum auch als Appell an den amtierenden Papst gelesen werden; ja gar als Antithese zur „Erklärung von Abu Dhabi“, welche dem Islam das Etikett der Brüderlichkeit anheftet, ihm aber eine echte Konfrontation mit der Vernunft erspart. Mit Papst Franziskus‘ Vorgänger Benedikt XVI. teilt Schall die Einschätzung, dass die Gewalt gar nicht das eigentliche Problem ist, sondern nur Ausdruck des Problems: „Der eigentliche Punkt ist der, dass Deus logos non voluntas est.“ Gottes Wille ist, wie Thomas von Aquin sagte, untrennbar an seine Weisheit gebunden. Oder anders gesagt: Solange sich Christen und Muslime nicht auf die Grundprinzipien der Wirklichkeit einigen können, ist ein echter Dialog zum Scheitern verurteilt.
Schall macht sich keine Illusionen über die Zukunft des Westens und die Stärke, die der Islam trotz seiner Inkohärenz gegenwärtig hat. Er hält „es für durchaus möglich oder sogar wahrscheinlich, dass der Islam sich in vielen Gebieten Europas und Amerikas erfolgreich etablieren wird.“ Der heutige Islam wisse um seine Chance, sowohl mit demokratischen als auch mit militärischen Mitteln zu siegen. Für umso dringlicher hält Schall darum die Klärung der Frage, mit wem bzw. was wir es beim Islam zu tun haben.
Spannend ist die Lektüre von Schalls Buch insbesondere auch darum, weil er nie den Westen aus dem Blick verliert, wodurch die Tragweite seines Plädoyers für den logos noch eindrücklicher zu Tage tritt. Der Wahrheitsverlust scheint ein Problem von globalem Ausmass zu sein: „Die Notwendigkeit einer ‚Rehellenisierung‘ sowohl des Islams als auch des Westens wird ironischerweise zum selben Zeitpunkt akut. Mit der Aussage, dass Allah das Gegenteil von dem tun kann, was er gestern getan hat, und dass Allahs Wille Gewalt legitimiert, befindet sich der Islam in grosser Nähe zur modernen liberaldemokratischen Position, wonach wir ein ‚Recht‘ auf etwas haben können, das der Vernunft widerspricht. Alles, was zählt, ist der Wille Allahs – oder des Leviathans.“