In der Volksschule ist Fachwissen heutzutage vernachlässigbar, Auswendiglernen gilt als reaktionär und was „modern“ ist, wird grundsätzlich begrüsst. Ein Grundlagenirrtum.
Von R. Ecklin
In der heutigen Bildung sind Vokabelprüfungen verpönt, Diktate sowieso, und wer es heute noch wagt, den Schülern Jahreszahlen beizubringen, fällt der sozialen Ächtung der gesamten Bildungsschickeria zum Opfer. Die Folgen dieser Pädagogik sind hinlänglich bekannt: Die heutige Jugend schreibt so schlecht wie keine vor ihr, kaum ein Schulabgänger bringt einen Satz auf Französisch zustande und wer einen durchschnittlichen 17-Jährigen fragt, wann der Buchdruck erfunden wurde, hört zwischen 50 vor Christus und 1950 so ziemlich jede Jahreszahl, die die Welthistorie hergibt. Dass immer mehr Arbeit-geber den Schulnoten nicht trauen und von potenziellen Lehrlingen externe Kompetenz-nachweise verlangen, erstaunt also ebenso wenig wie die Tatsache, dass Privatschulen und Homeschooling Hochkonjunktur haben.
Gesichertes Wissen hat momentan einen schweren Stand. Da man permanent Zugriff auf das Internet hat, müsse man keine Fakten mehr kennen, weil man bei Bedarf ja schnell nachschauen könne, so das Weltbild von modernen Pädagogen. „Kompetenzen“ seien heute entscheidend, heisst es. Man müsse wissen, wo etwas nachzuschlagen ist. Didaktiker sprechen auch gerne von „prozeduralem Wissen“. Das Beharren auf korrekter Rechtschreibung und Auswendiglernen von Namen, Daten und Fakten sei wiederum ein bourgeoises Relikt aus der analogen Ära. In Wirklichkeit aber ist hartes Faktenwissen die Grundlage, um sich in der Welt zurechtzufinden. Dies aus fünf Gründen:
- Nur wer Fakten kennt, kann arbeiten. Eine Pharmaassistentin muss wissen, wie verschiedene Arzneimittel dosiert werden, ein Koch muss die Zutaten seiner Gerichte kennen, ein Velomechaniker muss wissen, wo die Vorzüge der einzelnen Modelle sind, und ein Stromer muss wissen, was der Unterschied zwischen Milliampere und Kilowattstunden ist. Bei all diesen Fragen handelt es sich um Fachwissen, das in wenigen Minuten Recherche abgerufen werden kann. Diese Zeit steht in der Berufswelt aber niemandem zur Verfügung. Dass den Schülern aber genau das vorgegaukelt wird, ist fahrlässig.
- Nur wer Fakten kennt, kann recherchieren. Das Internet ist eine gigantische, ungeordnete Fülle an Information, deren Hyperlink-Struktur zusätzlich zu Abschweifungen verleitet. Nur mit genügend Vorwissen kann Wichtiges von Unwichtigem getrennt werden, können die richtigen Fragen gestellt werden und so die gewünschte Information her-ausgefiltert werden. Ohne Faktenwissen also kein prozedurales Wissen. Auch Falsch-informationen können nur mit genügend Hintergrundwissen als solche erkannt werden.
- Nur wer Fakten kennt, kann sich richtig ausdrücken. Sprachkenntnis ist Faktenkenntnis. Sprache ist das zentrale Kulturgut des Menschen und eine saubere Sprache ist die Grundvoraussetzung für einen sauberen Gedanken. Zusätzlich gibt der Ausdruck in Wort und Schrift dem Empfänger Aufschluss über die kognitiven Fähigkeiten des Absenders. Auch eine Fremdsprache kann nur mit explizitem Einstudieren von Vokabeln und Regeln richtig gelernt werden. Ohne gefestigten Wortschatz kein Inhalt und ohne kohärente Grammatik kein Sinn. Einfach mal drauflosreden, wie es sich manch ein Lehrer vorstellt, funktioniert so gut wie einfach mal drauflosfliegen bei einem Pilotenlehrling.
- Nur wer Fakten kennt, versteht den Alltag. Wenn man die Zeitung aufschlägt oder das Radio einschaltet, versteht man ohne das nötige Faktenwissen nicht die Hälfte der Nachrichten. Was ist der Brexit? Wieso wird ein Politiker für seine Lobpreisung des nordkoreanischen Regimes kritisiert? Worum geht es im Nahostkonflikt? Auch ein Beitrag über einen dreissigjährigen Mauerfall bleibt für den Unkundigen ein unverständliches Geschwätz.
- Nur wer Fakten kennt, fällt nicht unangenehm auf. Um in einer Gesprächsrunde mit Arbeitskollegen, Freunden, Freundesfreunden oder den Schwiegereltern als mündiges Mitglied anerkannt und ernst genommen zu werden, wird ein gewisses kanonisches Wissen vorausgesetzt. Wer den zweiten thermodynamischen Satz nicht versteht oder nicht weiss, unter welchem Kaiser der Fünfte Kreuzzug stattfand, büsst noch keine Glaubwürdigkeit ein, da diese spezifischen Fragen nicht zum Allgemeinwissen gehören. Man stelle sich aber vor, welch betretenes Schweigen und Verlegenheit man in einer Runde auslöst, wenn man fragt, ob die Aorta ein Gebäck sei, die Krim eine Krankheit, Rembrandt eine Automarke und Tschaikowski eine Spielkonsole. Als Gesprächsteilnehmer disqualifiziert man sich mit ungenügendem Wissen sofort und nachhaltig.