Nach dem schweren Attentat auf den slowakischen Ministerpräsidenten Robert Fico ereignete sich nun der Angriff auf die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen. Solche Taten haben in einer Demokratie nichts zu suchen. Sie sind ein Alarmzeichen und müssen unser Bewusstsein schärfen, was aktuell nicht richtig läuft.

Ein Kommentar von Ralph Studer

Die Anschläge gegen Politiker nehmen zu. Das ist ein alarmierendes Zeichen. Mitte Mai wurde der Ministerpräsident der Slowakei, Robert Fico, von mehreren Schüssen getroffen und überlebte trotz schwerer Verletzungen. Die aktuelle Gewalttat gegen Mette Frederiksen ist bereits der nächste Angriff auf einen hochrangigen Politiker.

Gewalt ist geächtet

Gewalt ist zu verurteilen, unabhängig von welcher Seite sie kommt und wen sie trifft. Unsere westlichen Staaten und Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass sie Gewalt in politischen Auseinandersetzungen ächten und auf der Suche nach Lösungen den Dialog und harte Wortgefechte wählen. Gewalt ist kein probates Mittel in Ländern, die von einer freiheitlich-demokratischen Grundüberzeugung getragen sind. Doch wie steht es um diese Grundüberzeugung heute?

Verlust der Streitkultur

Viele Debatten werden heute nicht mehr geführt. Greift ein Referent Themen auf und vertritt Meinungen, die manchen Kreisen nicht passen, riskiert er, ausgeladen zu werden. Doch nicht nur Vorträge werden abgesagt, Andersdenkende haben es mittlerweile oft schwer, nicht  ausgegrenzt oder gar diffamiert zu werden. Die zunehmend verlorengehende Streitkultur und das Hetzen vor allem in sozialen Medien stehen mittlerweile als „westliche Unsitte“ an der Tagesordnung. „Shitstorm ist die moderne Art der Hexenverbrennung“, so hat es die Soziologieprofessorin Katja Rost treffend bezeichnet.

Insgesamt ist festzustellen, dass „Cancel Culture“ und „Wokismus“, der neue linke Moralismus, auf unsere Gesellschaft einen Einfluss ausübt, der destruktive und gar totalitäre Züge aufweist. Dies führt zu einer massiven Schwächung und Einschränkung der Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit.

Spaltung statt lebendige Demokratie

Und hier zeigt sich das eigentliche Dilemma und besonders die Gefahr für unsere freiheitlich-demokratischen Gesellschaften. Solange „Woke“-Aktivisten rationale Auseinandersetzung, wie NZZ-Journalist Thomas Ribi sagt, als „Herrschaftsinstrument“ sehen und Wissenschaft als „Fortsetzung des Kolonialismus mit anderen Mitteln“ betrachten, wird jedes Gespräch und jede inhaltliche Auseinandersetzung verunmöglicht.

Ein inhaltlicher Austausch, Wortgefechte, ein Ringen um die besten Argumente, das aber von Fairness gegenüber den Personen getragen ist, werden zurückgedrängt. Und dies, obwohl solche inhaltlichen Auseinandersetzungen das Lebenselixier und der Motor einer lebendigen Demokratie sind. Statt Diskurs und Debatten erleben wir vermehrte Spaltungstendenzen.

Es braucht wieder ein stärkeres Zusammenrücken und ein vermehrtes Tolerieren anderer Meinungen. Mit Tolerieren ist keine Akzeptanz im Sinne von Zustimmung gemeint, sondern dass jeder Einzelne seinen Mitmenschen in seiner anderen Meinung stehen lassen kann, auch wenn er mit dessen Sichtweise nicht einverstanden ist. Denn was wir leben, was wir vorleben, das prägt unsere Gesellschaft und unser Zusammenleben.

Negativspirale und ihre Folgen

Ist jedoch die Negativspirale einmal in Gang gesetzt, ist sie nur schwerlich aufzuhalten. Zunächst werden Andersdenkende mit Worten verunglimpft. Dann wird mit immer härteren Bandagen gekämpft, die Menschen driften zunehmend auseinander, Fronten bilden sich und die Polarisierung verschärft sich. Fehlen der Dialog und die Bereitschaft, gemeinsam nach Lösungen zu suchen, wird der Gegner verstärkt degradiert und abgewertet.

Dann ist es nicht mehr weit, bis die Ablehnung der anderen Meinung zur Ablehnung des anderen Menschen führt und – weiter gedacht – starke negative Emotionen wie Hass aufkommen und letztlich die Würde des anderen Menschen in Frage gestellt wird. Wird dem politischen Gegner seine Menschenwürde sogar gänzlich abgesprochen, kann Gewalt das Wort und die politischen Streitgespräche vollständig ersetzen.

Umdenken und handeln

Es soll hier kein Schreckensszenario ausgemalt werden. Die gegenwärtigen unguten und gefährlichen Tendenzen müssen jedoch klar benannt werden. Diese Angriffe auf Fico und Frederiksen sind eben gerade keine Einzelfälle. In den letzten Monaten sind in mehreren europäischen Ländern Politiker Ziel von Gewalttaten geworden. Auch wenn sich die Motive der Täter in den einzelnen Fällen unterscheiden, zeugt die Zunahme der Taten von einer besorgniserregenden Entwicklung.

Angesichts dessen ist ein Umdenken dringend notwendig. Haben wir noch ein Ja zu unseren freiheitlich-demokratischen Errungenschaften, zum Dialog, zu einer gesunden Streitkultur? Jeder Einzelne kann hier seinen Beitrag in seinem Umfeld leisten. Und Politiker sind gefordert, solche Gewalttaten öffentlich klar zu verurteilen sowie gleichzeitig eine gesunde Streitkultur im politischen Tagesgeschäft vorzuleben und zu fördern. Es ist an uns allen, daran mitarbeiten, dass solche gewalttätigen Angriffe auf politische Vertreter nicht weiter zunehmen.